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Aufstocker: "Ich lebe von 600 Euro im Monat"

Das Coronavirus verändert für viele Menschen, wie und wo sie arbeiten. Und auch, wie viel Geld sie verdienen. Wer kann, arbeitet im Homeoffice. Für Freiberufler brechen Aufträge weg, sie wissen nicht, wie sie ihre Miete bezahlen sollen, andere mussten ihre Geschäfte schließen und hoffen auf finanzielle Unterstützung. In der Serie "Kontoauszug" stellen wir Menschen vor, die genau davon erzählen: Was heißt Corona für meine Arbeit - und für mein Konto? Hier berichtet der 60-jährige Jürgen Lüppen, der in Aurich lebt, Sozialleistungen empfängt und seinen Hartz-IV-Satz aufstockt.

Beruf: Ich arbeite seit 25 Jahren als Zusteller für Zeitungen. Vor zwei Jahren habe ich einen Schlaganfall gehabt und musste meine Stunden reduzieren. Aufgrund des Infarkts kann ich mein bisheriges Pensum nicht mehr stemmen, da ich als Zeitungszusteller schon nachts anfange zu arbeiten. Weil ich weniger arbeite, bin ich unter die 450-Euro der Minijob-Grenze gerutscht. Ich bekomme vom Staat meinen Lohn aufgestockt, sonst würde ich finanziell nicht überleben. Ich bin ein sogenannter Aufstocker.

Als ich mit 35 Jahren angefangen habe, als Zusteller zu arbeiten, habe ich parallel meine Mutter gepflegt. Schon damals habe ich finanzielle Hilfe bekommen und kannte die Probleme, die man als Arbeitsloser hat. Zehn Jahre später habe ich eine Arbeitsloseninitiative gegründet, damals war ich 45 Jahre alt, heute bin ich immer noch Vorsitzender. Ehrenamtlich berate ich Erwerbslose, helfe bei Anträgen, falschen Berechnungen und allen Problemen. Besonders seit 2005 haben die Probleme zugenommen, in dem Jahr ist eingeführt worden. Plötzlich gab es keine Einzelleistungen mehr, die man stellen konnte, wie beispielsweise einen warmen Wintermantel, sondern muss mit dem Regelsatz alles selbst zahlen.

"Ich habe Glück, weil ich einen alten Mietvertrag habe." Jürgen Lüppen, 60, Aufstocker

Ich habe Glück, weil ich einen alten Mietvertrag habe. Das größte Problem ist für die meisten, dass die Kosten für die Unterkunft zu hoch sind. In Aurich haben wir nicht genug Sozialwohnungen, die Wohnungspreise sind so hoch, dass der staatliche Satz nicht für die Miete reicht und das Geld, das für das Leben, wie Lebensmittel und Hygieneartikel, berechnet wurde, noch für die Unterkunft ausgegeben werden muss. Doch das geht natürlich nicht und ich versuche denen zu helfen, die in so einer Notlage sind. Arbeitslose Menschen zu beraten ist mein Ehrenamt. Mir ist es wichtig, ihnen zu helfen, denn ich weiß ja selbst, wie schwierig die Situation ist. Insgesamt habe ich bestimmt schon 2.000 Beratungsgespräche geführt, es könnten sogar mehr gewesen sein.

Arbeitszeit: Vor meiner Erkrankung bin ich um drei Uhr morgens mit meinem Fahrrad losgefahren. Heute beginnt mein Arbeitstag um fünf Uhr. Ich brauche etwa eineinhalb Stunden, um die 80 bis 100 Zeitungen auszuliefern. Das mache ich an sechs von sieben Tagen in der Woche. Ich arbeite neun Stunden pro Woche. Doch mit meinem Lohn könnte ich nicht leben.

Ausbildung: Ich habe einen Hauptschulabschluss gemacht und vor dreißig Jahren auf dem zweiten Bildungsweg meinen Realschulabschluss nachgeholt. Als Jugendlicher habe ich davon geträumt, mal als Verkäufer zu arbeiten. Doch selbst nachdem ich meinen Abschluss nachgeholt hatte, habe ich mich ohne Erfolg auf Ausbildungen beworben. Ich hätte gern Möbel verkauft oder einfach im Supermarkt gearbeitet.

"Es gibt eine soziale Diskriminierung gegenüber Arbeitslosen." Jürgen Lüppen, 60, Aufstocker

Was mir Sorgen bereitet: Seit der Corona-Pandemie haben sich die Anliegen, mit denen Menschen zu mir kommen, verändert. Es sind oft erwerbslose Mütter, die für ihre Kinder einen Laptop und Hilfe bei dem Antrag brauchen. Ich hätte gedacht, dass mehr Menschen kommen, wegen der wirtschaftlichen Lage, aber ich habe die Vermutung, dass viele, die nun keine Arbeit mehr haben, keinen Antrag für Hartz IV gestellt haben, weil sie sich schämen. Es gibt sicher eine soziale Diskriminierung gegenüber Arbeitslosen in unserer Gesellschaft. Ich bin selten davon betroffen, weil ich ein stabiles und gutes Umfeld habe.

Bruttoeinkommen: Ich bekomme 300 Euro Arbeitslosengeld II. Dazu kommen 300 Euro durch meinen Job als Zeitungszusteller. Insgesamt habe ich 600 Euro, das sind 140 Euro mehr, als wenn ich Hartz IV bekommen und nicht arbeiten würde.

Nettoeinkommen: Ich muss keine Abgaben machen, dafür ist es zu wenig.

Sonstige Einnahmen: Meine Zeit investiere ich in ehrenamtliche Tätigkeit bei der Arbeitsloseninitiative. Jede Woche bin ich mindestens fünfzehn Stunden dort zur Verfügung für andere, dafür bekomme ich kein Geld. Ich würde mir wünschen, dass dieses Ehrenamt in einen bezahlten Beruf umgewandelt werden würde. Statt Arbeitslosengeld kann ich mir auch das bedingungslose Grundeinkommen vorstellen. Es wäre sinnvoll, weil so die Bürokratie abgebaut werden würde und diesen negativen Druck nehmen würde, dem die Sozialleistungsempfänger ausgesetzt sind.

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