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HIV-Vorsorge: Sex ohne Angst

Martin Schrade* hatte gerade Sex mit einem Fremden. Da ist es gerissen, das Kondom, und Schrade bekam es mit der Angst zu tun. Was, wenn sein Liebhaber HIV-infiziert war? Was, wenn sich Schrade soeben angesteckt hatte? Wenn sich das in seinem Körper einnisten und in die DNA eingraben würde? Was, wenn das HI-Virus ausbräche und nicht geheilt werden könnte?

Deshalb ging Schrade noch in derselben Nacht in die Notaufnahme des nächsten Krankenhauses. Dort besorgte er sich eine sogenannte Postexpositionsprophylaxe, kurz PEP. Das Medikament verhindert mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass sich Menschen mit auch tatsächlich anstecken, obwohl sie mit dem Virus in Berührung gekommen sind. Es sorgt dafür, dass die Vermehrung von HIV-Zellen gestoppt wird und sich das Virus nicht in den Zellen des Immunsystems festsetzen kann. Dafür muss das Medikament aber spätestens 72 Stunden nach dem Kontakt mit dem Virus eigenommen werden - je früher, desto besser. Danach muss es vier Wochen lang regelmäßig geschluckt werden. Schrades HIV-Test sechs Wochen später war dann tatsächlich negativ - auch wenn er nie erfahren wird, ob er tatsächlich in Gefahr war, sich anzustecken.

Lange Zeit war die Zahl der jährlichen HIV-Neuinfektionen bei homosexuellen Männern konstant hoch. Im Jahr 2013 meldete das Robert-Koch-Institut 2.200 neue Infizierte. 2018 waren es nur noch 1.600, die meisten davon leben in Großstädten.

Für die abnehmende Zahl der Neuinfektionen könnte es einen Grund geben: ein neues Medikament, das 2012 zuerst in den USA zugelassen wurde, fast 40 Jahre nach Beginn der Pandemie. Keine Pille für danach, wie Schrade sie vor drei Jahren in der Notaufnahme bekommen hat, sondern eine wirkliche Prophylaxe, die täglich eingenommen wird und von vornherein vor einer Infektion schützt. Die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken, tendiert dann nahezu gegen null. Allerdings wissen nur die wenigsten, dass es diese Prophylaxe gibt. Und dass seit September dieses Jahres die Krankenversicherungen sogar die Kosten dafür übernehmen. Schrade schluckt die "Sexpille", wie er sie nennt, inzwischen schon seit zwei Jahren.

"Man outet sich sein Leben lang"

Martin Schrade ist 26 Jahre alt und studiert Asienwissenschaften in München. Er hat regelmäßig Sex, in einer Partnerschaft war er noch nie. Seit der Schulzeit hat er wechselnde Liebhaber. In diesem Jahr feiert Schrade ein Fest, das ihm wichtiger ist als sein Geburtstag. Es ist ein Jubiläum. Der Jahrestag seines Coming-outs. 2019 jährt es sich zum zehnten Mal. "Man outet sich ja nicht einmal, und dann ist die Sache gegessen, sondern man outet sich sein Leben lang", sagt Schrade.

Vor zehn Jahren hatte er jemanden kennengelernt, sie schrieben sich SMS, wollten sich treffen. Schrades beste Freundin fragte ihn: Ist das ein Date? Ja, es war ein Date. Ja, er ist schwul. Das war Schrades erstes Coming-out, der unspektakuläre Teil. Anschließend outete er sich vor seiner Klasse, seiner Schule. Schwerer war es mit seiner Familie. Eigentlich wollte er erst nach dem Schulabschluss mit ihr sprechen.

Denn er stammt aus einer tiefreligiösen Familie. Sein Vater ist evangelischer Pfarrer, sie wohnten damals sogar in einem Pfarrhaus. Während Schrade auf einer längeren Reise in China war, wollte sich ein Freund ein Videospiel von ihm ausleihen. Seine Mutter suchte im Zimmer des Sohnes nach dem Spiel. Gefunden hat sie Szenezeitschriften mit Veranstaltungstipps für Schwulenpartys. Dazu Pornofilme mit Männern. Da wusste sie es.

Erst, als er wieder am Flughafen in Deutschland angekommen war, erfuhr Schrade von seinem unfreiwilligen Coming-out. Seine Schwester schrieb ihm eine SMS: "Mum und Dad wissen alles. Sie haben dein Zimmer durchsucht und haben mich dich nicht mit vom Flughafen abholen lassen. Sie sind jetzt da."

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