Stefanie Uhrig

Freie Wissenschaftsjournalistin, Erbach

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Artikel

Wo kommen all die Autisten her?

Bei immer mehr Kindern wird eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert - die Zahlen haben sich innerhalb der letzten Jahre verfünffacht. Was ist passiert?

Es ist keine neue Beobachtung. Aber eine, die immer wieder Aufmerksamkeit erregt, wenn neue Werte veröffentlicht werden: Die Häufigkeit von Autismus nimmt zu. Das sagen jedenfalls verschiedene internationale Studien. Die jüngste Studie nutzte Daten aus dem Autism and Developmental Disabilities Monitoring Network (ADDM) der US-Gesundheitsbehörde CDC (Centers for Disease Control and Prevention) und untersuchte vier Regionen in New York-New Jersey.

Laut dieser Studie verfünffachten sich im Zeitraum von 2000 bis 2016 die Fälle von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) bei achtjährigen Kindern ohne geistige Einschränkungen. ASS in Kombination mit einem auffällig niedrigen Intelligenzquotienten kam immerhin im Jahr 2016 „nur" doppelt so häufig vor, wie zur Jahrtausendwende.

Woher kommt der Anstieg?

Damit folgen die Daten einem weltweiten Trend, der schon länger diskutiert wird. Bereits 2005 veröffentlichte der britische Entwicklungspsychologe Michael Rutter einen Review-Artikel, in dem er einen großen Anstieg der Prävalenz im Laufe von 40 Jahren beschreibt und auf mögliche Gründe eingeht. Seiner Einschätzung nach lassen sich die Zahlen vor allem damit erklären, dass Autismus besser erkannt wird und sich die diagnostischen Konzepte verändert haben. Zu ähnlichen Schlüssen kommt auch Dr. Sanna Stroth, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Philipps-Universität in Marburg, mit Blick auf die neu veröffentlichten Daten: „Insbesondere eine Sensibilisierung und Aufklärung über das Störungsbild sowie eine zunehmende Präsenz in den Medien - beispielsweise durch die Einführung einer autistischen Puppe in der amerikanischen Sesamstraße - spielen eine Rolle." Zudem sorge die Erweiterung der diagnostischen Kriterien dafür, dass vor allem mildere Formen von ASS ohne Intelligenzminderung häufiger diagnostiziert werden.

Die Gesellschaft mitdenken

Der schwedische Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Leiter des Zentrums für Neuroentwicklungsstörungen am Karolinska-Institut, Dr. Sven Bölte, hebt einen weiteren Aspekt hervor: Laut der amerikanischen Studie finden sich vor allem in Familien mit hohem Einkommen mehr Fälle von Autismus. „In Schweden ist das genau andersherum. Das hat sicherlich auch etwas mit der Gesundheitsversorgung zu tun, und dem Zugang dazu." In den USA sei eine gute medizinische Versorgung viel stärker an das Einkommen gekoppelt als in Schweden. Für die Erhebung von Prävalenzdaten sind also gesellschaftliche Aspekte und Einordnungen entscheidend.

Dazu kommt: Viele verschiedene Gene haben einen Einfluss auf die Entwicklung von Autismus - das ist bekannt und wird weiter untersucht. Unsicher ist hingegen die Frage, ob Umweltfaktoren eine Rolle spielen, und wenn ja, welche. Über die Jahre gab es Theorien, die später widerlegt wurden. So wissen wir heute, dass die Mumps-Masern-Röteln-Impfung nichts mit ASS zu tun hat. The Lancet zog die ursprüngliche Studie, die einen Zusammenhang gezeigt hatte, 12 Jahre nach der Veröffentlichung zurück, als deutlich wurde, dass sie auf falschen Behauptungen und unethischem Verhalten der Autoren beruhte.

Geht man wie Sven Bölte davon aus, dass „Autismus hochgenetisch ist, aber auch biologische Umweltfaktoren einwirken und mit den Genen interagieren können", erklärt das zusammen mit dem gesellschaftlichen Kontext die unterschiedlich hohen Prävalenzen in verschiedenen Regionen der Welt und tatsächlich sogar innerhalb einzelner Länder.

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Was wir überhaupt sehen

Es kommt allerdings auch darauf an, was genau untersucht wurde. Bei den Daten des ADDM handelt es sich nicht ausschließlich um diagnostizierte Fälle von Autismus. Vielmehr werden Kranken- und Schulakten sowie andere Dokumente gescreent und auch solche Kinder als „Fälle" eingeschätzt, bei denen ein besonderer Förderbedarf besteht oder Verhaltensweisen beobachtet wurden, die mit diagnostischen Kriterien für ASS übereinstimmen. Das schafft Ungenauigkeiten, sagt Sanna Stroth: „Auf diese Weise fallen auch solche Individuen in die Kategorie ‚Autismus-Fall', die keine Diagnose oder aber eine andere Diagnose haben, oder bei denen nach einem Verdacht auf Autismus die Diagnose sogar ausgeschlossen wurde."

Dennoch liefern die Daten des CDC eine ungefähre Idee davon, wie verbreitet ASS in den USA sind. Das ist mehr, als wir in Deutschland haben: Hier gibt es gar keine statistischen Informationen über die Häufigkeit. Das Umweltbundesamt und der Verein Autismus Deutschland gehen von einer globalen Prävalenz von 0,6 bis ein Prozent der Bevölkerung aus - das wären also sechs bis zehn Betroffene pro 1000 Menschen.

Was wir daraus machen

Viel wichtiger als die genauen Zahlen ist allerdings, wie wir mit ASS umgehen. „Autismus wurde lange als Krankheit verstanden", sagt Sven Bölte. Natürlich gehe es einher mit einem erhöhten Risiko für psychische Probleme und bestimmte Erkrankungen. Doch das muss nichts heißen: „Autisten haben eine andere neurologische Reife und Funktion, sie sind nicht per se krank." Wir sprechen in diesem Fall von Neurodiversität, die uns vor eine gesellschaftliche Aufgabe stellt, so Bölte: „Heilung steht bei der Autismus-Forschung nicht im Vordergrund, aber die Anpassung an die Bedürfnisse von Autisten und die Verhinderung von möglichen negativen Konsequenzen."

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