Stefanie Uhrig

Freie Wissenschaftsjournalistin, Erbach

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Tinnitus-Therapie: Ärzte, schon gehört?

Viele Ursachen, ungeklärte Mechanismen - der Behandlung von Tinnitus steht einiges im Weg. Doch Mediziner sind nicht machtlos: Die Therapiepalette wurde jetzt erweitert.

Über 740 Millionen Menschen weltweit leiden an Tinnitus, grob gesagt: Sie hören ein Geräusch, das weder aus ihrer Umgebung kommt noch im Ohr selbst erzeugt wird. Dabei kann das Geräusch sehr unterschiedlich sein. Manche hören ein Zischen, andere ein Klingeln, Klicken oder Tosen, auf einer oder beiden Seiten, konstant oder pulsierend, hoch oder tief. Je nach Intensität kann ein Tinnitus die Lebensqualität sehr beeinträchtigen, indem er Schlafprobleme, Konzentrationsstörungen, Hörschwierigkeiten, Angst und Depression hervorruft oder verstärkt. In vielen Fällen bleibt das ein Leben lang bestehen.

Eine eigenständige Diagnose ist Tinnitus nicht, vielmehr gilt er als Symptom anderer Erkrankungen. Dennoch gibt es effektive Möglichkeiten zur Behandlung.

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Apps füllen Versorgungslücken

Die neuseeländischen Wissenschaftler Grand D. Searchfield und Philip J. Sanders haben dafür eine App entwickelt und in einer randomisierten, kontrollierten Studie getestet. Zwölf Wochen lang sollten die Teilnehmer mit moderatem bis schwerem Tinnitus über die App passiv vorgegebene oder aktiv von ihnen kalibrierte Geräusche anhören und sich über ein Wiki zu Tinnitus und Therapiestrategien informieren. Die Kontrollgruppe nutzte in der gleichen Zeit eine schon existierende App, die weißes Rauschen abspielt. Am Ende der Studie konnten die Testpersonen besser mit ihrem Tinnitus umgehen als die Kontrollen. Die neue App scheint also durchaus ein Fortschritt zu sein. Ein „Breakthrough für die Tinnitusheilung", wie es in der Pressemeldung der Universität heißt, ist sie wohl eher nicht.

„Die Studie macht nichts komplett Neues. Vielmehr haben die Forscher etablierte Therapieansätze in eine App gepackt", sagt Prof. Dr. Berthold Langguth, Leiter des Tinnituszentrums in Regensburg. Tatsächlich gebe es mittlerweile viele Ansätze, Apps zur Tinnitusbehandlung einzusetzen. Er selbst untersucht gerade ebenfalls in einer großen Studie eine App, die Empfehlungen zum Tinnitus und Geräuschstimulation mit einer Tagebuch-Funktion kombiniert. „Die Apps unterscheiden sich oft nur in Nuancen", so Langguth. „Der eigentliche Fortschritt ist aber: Auf diese Weise können mehr Patienten Zugang zu bereits etablierten Therapien bekommen, die sie ansonsten gar nicht erreichen."

Mit dem Tinnitus leben

Behandlungsmöglichkeiten gibt es mittlerweile einige. Die meisten konzentrieren sich darauf, die Wahrnehmung der Tinnitus-Geräusche in den Hintergrund zu rücken und die Belastung zu vermindern. Das funktioniert beispielsweise durch die Information, dass Tinnitus nicht gefährlich ist, durch Verhaltensempfehlungen oder den gezielten Einsatz anderer Geräusche, erklärt Berthold Langguth: „Oft sind die Patienten zusätzlich geräuschempfindlich und halten sich von allem Lärm fern oder nutzten Ohrstöpsel, wenn sie das Haus verlassen." Genau das verschlimmere den Tinnitus, der eine Kompensation des Gehirns darstellt, wenn etwa in bestimmten Tonhöhen der Reiz von außen fehlt. Bei Menschen, die häufig lauten Geräuschen ausgesetzt sind - beispielsweise durch Musik aus Ohrstöpseln oder aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit - gehen nach und nach die Haarzellen im Ohr kaputt, die Geräusche übertragen. Sie hören immer schlechter, merken es aber selbst lange nicht. Bleiben dann die Signale von außen zum Großteil oder vollständig aus, dichtet das Gehirn sich sozusagen welche. Verstehen die Betroffenen diesen Mechanismus, können sie ihr Verhalten besser darauf anpassen.

Auch kognitive Verhaltenstherapie kann sehr gut helfen, mit dem Symptom klarzukommen. Hier könnten Apps in Zukunft eine besonders große Rolle spielen, glaubt Berthold Langguth, denn viele Menschen haben schlicht keine Psychotherapeuten mit Tinnituserfahrung in ihrer Nähe.

Interdisziplinär vorankommen

Das Ziel der Forschung besteht allerdings in einer Behandlung, mit der die Tinnituslautstärke reduziert wird oder der Tinnitus sogar ganz verschwindet. Doch gerade durch die vielfältigen Ursachen und die noch immer nicht komplett verstandenen Mechanismen gibt es hierfür deutlich weniger Ansätze. Tritt der Tinnitus in Zusammenhang mit einer einseitigen Taubheit auf, kommt das Einsetzen eines Cochlea-Implantats infrage, das die Hörfunktionen wiederherstellt und damit den Tinnitus unterdrückt. Eine spannende Forschungsrichtung sieht Berthold Langguth in der kombinierten akustischen und elektrischen Gehirnstimulation, aber auch pharmakologische Behandlungen könnten in Zukunft helfen - bisher gibt es keine Tinnitus-Medikamente. Wichtig sei die interdisziplinäre Forschung, die in den letzten 25 Jahren bereits deutlich zugenommen hat, so Langguth.

Vor allem aber sollten alle Menschen gut auf ihr Gehör achten, rät der Tinnitus-Forscher. „Die Prävention ist einfach: Die Lärmexposition dosieren und extrem laute Geräusche vermeiden." Bleiben so die Haarzellen im Ohr intakt, stellt sich gar nicht erst ein Tinnitus ein.


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