Stefanie Uhrig

Freie Wissenschaftsjournalistin, Erbach

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Afantasie: Wenn die Bilder fehlen

Es gibt Menschen, die sie einfach nicht sehen können: Bilder vor dem geistigen Auge. Was bedeutet es, ohne eine Fähigkeit zu leben, die für die meisten völlig selbstverständlich ist?

Wie sah heute Morgen dein Frühstückstisch aus? Kannst du vor deinem geistigen Auge sehen, welche Dinge wo standen? Wenn nicht, gehörst du vielleicht zu den ein bis vier Prozent der Menschen mit Afantasie. Darunter verstehen wir die Unfähigkeit, sich etwas bildlich vorzustellen. Es ist ein relativ neuer Begriff: Dr. Adam Zeman, Professor für kognitive und Verhaltensneurologie an der University of Exeter College of Medicine and Health (UK), hat ihn gemeinsam mit Kollegen 2015 definiert.


Verbildlichung vs. Logik: Welche Farbe hat eine Banane?

Was das für Betroffene bedeutet, ist schwer zu sagen. Nützlich ist eine bildliche Vorstellungskraft etwa, wenn wir uns an Vergangenes erinnern oder die Zukunft ausmalen wollen. Tatsächlich haben viele Afantasisten Schwierigkeiten mit dem autobiografischen Gedächtnis, erklärt Merlin Monzel, Leiter der Afantasie-Forschung der Uni Bonn. „Sie wissen beispielsweise, dass sie verheiratet sind, können sich aber nicht an die Hochzeit selbst erinnern." Auch Gesichter zu erkennen, fällt Menschen mit Afantasie häufig schwer.

Das heißt allerdings nicht, dass sie keine Vorstellungskraft haben. „Imagination ist eine viel reichere und komplexere Fähigkeit als die Verbildlichung", schreibt Adam Zeman im American Scientist. Einiges kompensieren Afantasisten mit logischem Denken. Monzel beschreibt es so: „Wenn Sie sagen sollen, welche Farbe eine Banane hat, sehen Sie vermutlich ein Bild davon. Afantasisten tun das nicht, aber sie wissen trotzdem, dass Bananen gelb sind." So kommen sie oft ohne größere Probleme durchs Leben: Manche sind sogar überrascht, wenn sie irgendwann hören, dass andere Menschen Bilder in ihrer Vorstellung sehen, erzählt Monzel. Oft sind gleichzeitig weitere Sinne betroffen. Töne, Geschmack oder Geruch können wir uns ebenfalls vorstellen - oder auch nicht.


So läuft Afantasie im Gehirn ab

Wie Afantasie zustande kommt, muss noch erforscht werden. Teils entsteht sie als Folge einer Erkrankung, etwa nach einem Schlaganfall. Anderen fehlt die Fähigkeit von Geburt an. Da sich die Fälle oft in Familien häufen, könnte es zumindest eine genetische Komponente geben. Nachgewiesen ist das bisher jedoch nicht. Theorien gibt es auch zu den Vorgängen im Gehirn: „Möglicherweise ist eine Verbindung zwischen dem Frontallappen und dem Okzipitallappen gestört", sagt Monzel. „Im Frontallappen bilden wir den Willen, uns etwas vorzustellen. Im Okzipitallappen aktivieren wir die gleichen Neurone, die wir auch zum Sehen benötigen - nur schwächer." Dazwischen liegen weitere Schritte, etwa im Hippocampus, der uns mit Erinnerungen über frühere Erfahrungen versorgt. Gehen die Informationen irgendwo auf dem Weg von Frontallappen zu Okzipitallappen verloren, funktioniert das geistige Auge nicht.

Bei manchen Afantasisten fanden Monzel und seine Kollegen außerdem eine Überaktivierung des Okzipitallappens. Was zunächst paradox klingt, ergibt tatsächlich Sinn: Wenn viele Neuronen ständig aktiv sind, kommt das Signal der wenigen nicht durch, die gerade eigentlich etwas zu sagen hätten.


Warum eine Behandlung nicht unbedingt nötig ist

Kennen wir den Mechanismus, lassen sich vielleicht Behandlungsmöglichkeiten finden. Aber ob das nötig ist? Adam Zeman sieht Afantasie nicht grundsätzlich als Erkrankung an, eher als eine Variation der menschlichen Wahrnehmung. Immerhin kommen Afantasisten mit verschiedenen Strategien sehr gut zurecht. Trotzdem leiden manche Betroffenen darunter, gibt Merlin Monzel zu bedenken. „Sie haben das Gefühl, dass ihnen etwas fehlt, was alle anderen Menschen können. Auch der soziale Umgang kann schwierig sein, wenn Afantasisten emotionslos wirken, in Wirklichkeit aber einfach keine Erinnerung an emotionale Ereignisse haben." Zudem mache einigen Afantasisten der Identitätsverlust zu schaffen, der mit einem schlechten autobiografischen Gedächtnis einhergehen kann.

Das wissenschaftliche Interesse an der Afantasie kommt allerdings nicht daher, dass die Forschungsgruppen nach einer Heilung suchen. Vielmehr können sie von Afantasisten darauf schließen, wie das menschliche Gehirn tickt. „Normabweichungen verraten uns viel darüber, wie die Dinge eigentlich funktionieren", so Monzel. Er selbst arbeitet gerade an vier verschiedenen Studien über Afantasie. Dafür sind er und sein Team immer auf der Suche nach Studienteilnehmern (mit und ohne Afantasie). Interessierte können sich unter diesem Link anmelden.

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