Unsere Autorin hat als Kind Tagebuch geschrieben – und irgendwann aufgehört. Im Selbstversuch hat sie jetzt für einen Monat wieder damit angefangen. Was kann das sogenannte „Journaling“ im Erwachsenenalter leisten?
Unter dem Titel „How to be that girl" fluten seit einiger Zeit Videos mit Lifestyletipps und „Routines" für die perfekte Morgen- und Abendgestaltung Instagram und TikTok. Ganz genau weiß ich nicht, wer „that girl" ist. Allgemein handelt es sich dabei wohl um einen (fast unerreichbaren) Lebensentwurf für junge Frauen, der den standardisierten westlichen Idealvorstellungen entspricht. Die Videos sind ein Selbstoptimierungs-Marathon von früh bis spät. Und ein Punkt fehlt dabei auf der durchgetakteten To-Do-Liste nie: mindestens 15 Minuten Journaling - täglich! Ein oberflächlicher Trend, möchte man meinen, der der Bloggerin Tiefgründigkeit attestieren soll. Aber vielleicht steckt mehr dahinter?+
Es ist Donnerstag, der 20. April 2023: Selbstversuchstag 1. Vor mir liegt das aufgeschlagene Notizbuch, ab jetzt mein Journal. Es ist keiner dieser roségoldfarbenen Pinterest-Träume, die man in besagten Videos auf Instagram sieht. Nein, meins ist schwarz, langweilig und war einmal ein Werbegeschenk. Egal, es kommt schließlich auf den Inhalt an. Einige Minuten starre ich die leere Seite an. Dann nehme ich einen Stift: „Liebes Tagebuch". Macht man das als Erwachsener überhaupt noch so? Im Kindesalter war diese Anrede ganz normal, doch jetzt klingen die Worte kitschig, klischeehaft. Ich streiche sie wieder durch. Als Erwachsener schreibt man wohl eher an sich selbst.
Mein erster Journaleintrag wird also lang, sehr lang, volle fünf Seiten. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten, bei denen ich ein wenig verkrampft herumgelabert habe, habe ich einfach angefangen zu schreiben: Erst von meinem Tag, und als das zu sehr abdriftete, zu den Überlegungen, die ich an diesem Tag zu meiner Weiterentwicklung hatte. Das Schreiben geht mir leicht von der Hand (eventuell ist das auch meiner Arbeit geschuldet), oft sind meine Gedanken schneller als ich den Stift über das Papier bewegen kann. Aller Anfang ist doch gar nicht so schwer.
Zicken, Pferde, Fische und ein „Spaziergang für die Seele“
Es sollen Einträge zu einem Wiedersehen mit einem alten Schulfreund, Überlegungen zum Erwachsenwerden und über einen Traum folgen, Gedanken zu einem Ausflug mit meiner Mutter nach Holland und zu einem Besuch in meiner alten Schule. Diese Texte unterscheiden sich stark von dem, was ich meinem Tagebuch im Alter von acht bis elf Jahren anvertraute. Quietschgelb war es damals, mit einem Pippi-Langstrumpf-Aufdruck vorne und der Aufschrift „Geheimtagebuch“. Geheimgehalten werden musste sein Inhalt meistens nicht. Schließlich nutzt man in diesem Alter das Schreiben eher nicht, um tiefgehend über sich selbst zu reflektieren. Meistens habe ich dem Büchlein stichpunktartig berichtet, was ich gemacht habe, mit welcher Freundin ich mich getroffen habe, was ich gut fand (Reiten) und was doof (Flöte-Üben). Bis ins Alter der schmalzigen Teenie-Liebesbekundungen habe ich das Schreiben leider nicht durchgehalten. Blättere ich nun durch die Seiten, wünsche ich mich angesichts meiner heutigen düstereren Niederschriften ein wenig in diese unbeschwerte Zeit zurück.
Hatte ich mich wohl am 3. September 2007 zunächst über eine Freundin ausgelassen, die „die größte Zicke“ war (der Grund ist leider nicht mehr zu entziffern), wurde der Eintrag nachträglich mit schwarzem Stift übermalt und korrigiert: „Das, was da vorher stand, ist nicht mehr wichtig.“ Wahrscheinlich hatten meine Freundin und ich uns wieder vertragen. Am 9. Februar 2008 hielt ich nüchtern fest: „Ich bin vom Pferd gefallen.“ Punkt, fertig, keine weiteren Ausführungen, dafür die ungelenke Zeichnung eines Ponys, neben dem ein Strichmännchen-Mädchen, alle Viere von sich gestreckt, liegt. Mein Lieblingseintrag stammt vom 16. März 2008: „Fisch kann einem total den Morgen verderben“. Trauriger Emoji, durchgestrichener Fisch. Alles gesagt.
Mit fortschreitendem Alter wurde die Schrift zwar leserlicher und die Zeichnungen besser, das Ganze aber immer weniger eine freiwillige Beschäftigung als ein selbstauferlegtes Pflichtgefühl, ein nerviger Punkt auf einer imaginären To-Do-Liste. Mitunter schob ich diese Aufgabe tagelang vor mir her, was dann dazu führte, dass ich an einem Tag die Einträge einer ganzen Woche nachholte – schon sprachlich nicht ganz im Sinne des Erfinders ist, es heißt ja nicht Wochenbuch. Silvester 2010, ich war elf Jahre alt, hörte ich ganz auf. Bis jetzt.
Ein Kind schreibt anders Tagebuch als ein Erwachsener. Das ist natürlich. In jungen Jahren führe man eher eine Art Logbuch, erst im Jugendalter setze man den Schwerpunkt mehr auf Gedanken und Gefühle, sagt Mareike Altgassen, Professorin für Entwicklungspsychologie der Universität Mainz. „Als Kind ist man mehr im Moment und setzt sich weniger reflektiert oder bewusst mit Erlebnissen auseinander.“
Journaling ist etwas anderes. Vanessa Beyer, die als Schreib-Mentorin Kurse gibt, erklärt den Unterschied so: „Beim Tagebuchschreiben schreiben wir hauptsächlich über das Erlebte des Tages. Beim Journaling gehen wir noch einen Schritt weiter, weil wir mit unseren Gedanken, Gefühlen und Geschichten ‚arbeiten‘“. Dies geschehe, indem man Erlebnisse reflektiere, Zusammenhänge erkenne, Wünsche visualisiere und Perspektiven wechsle. Man lenke seine Gedanken und Gefühle in eine bestimmte Richtung – die, „in die wir auch unser Leben lenken wollen“. Journaling ist für Beyer „wie Yoga für meinen Kopf oder auch wie ein Spaziergang für meine Seele“. Man nehme seine innere Stimme mehr wahr und gehe in einen aktiven Dialog mit sich selbst.
„Zeile für Zeile zu mehr Selbstbewusstsein“: Die Vorteile des Journaling
„Das regelmäßige Schreiben hat nachweislich eine positive Wirkung auf unser seelisches, geistiges und physisches Wohlbefinden“, sagt Schreibmentorin Beyer. Man könne dabei vor allem negative Gedanken und Gefühle ehrlich wahrnehmen und irgendwann loslassen, statt sie zu verdrängen oder ständig darüber nachzugrübeln. Auch könne das Schreiben mit der Hand dazu beitragen, dass man „das Karussell des Alltags“ einmal anhält und zur Ruhe kommt. „Das Journaling hilft uns vor allem dabei, uns selbst besser kennenzulernen“, erklärt Beyer. Man werde sich über sich selbst bewusst – „und somit selbstbewusst“. Als sie in der fünften und sechsten Klasse von ihren Mitschülern gemobbt wurde, und aufhörte zu sprechen, lernte sie, sich über das Schreiben auszudrücken. Ihr Notizbuch wurde zu ihrem sicheren Ort: „Wort für Wort, Zeile für Zeile habe ich mich wieder zu mir und zu mehr Selbstbewusstsein, Vertrauen und Lebensfreude geschrieben.“
Zudem könne Journaling laut Beyer bei innerem Stress, Unruhe, Schlafproblemen, Ängsten und Bluthochdruck helfen. Dass dieses Schreiben auch das Immunsystem stärken kann, hat auch schon in den Achtzigerjahren James W. Pennebaker von der Universität Texas entdeckt. Der Psychologe gilt als einer der Vorreiter auf dem Gebiet des expressiven Schreibens. Eine von ihm durchgeführte Studie zur Schreibtherapie zeigt, dass Menschen, die ein Journal führen, seltener krank werden und eine bessere psychische Gesundheit haben. Daneben könne Journaling auch soziale Kompetenzen verbessern sowie die Konzentration, das Erinnerungsvermögen und die Kreativität fördern, sagt Beyer.
Auch die Mainzer Professorin Altgassen sieht deutliche Vorteile im regelmäßigen Journaling: Man habe nicht nur die Möglichkeit, retrospektiv zu reflektieren, sondern auch sich bewusst zu werden, was man etwa in Zukunft an seinem Verhalten ändern oder welchen Herausforderungen man sich stellen möchte. In dem man dies schriftlich festhalte, werde es ihrer Erfahrung nach leichter umgesetzt: „Da geht man ein gewisses Commitment ein, auch wenn das Commitment erstmal nur vor einem selber besteht.“ Altgassen forscht am Psychologischen Institut der Uni Mainz selbst zu sogenannten Diary Tasks. In dieser Studie schreiben Probanden auf, was sie in den nächsten drei Tagen tun wollen, dann wird überprüft, ob sie ihre Absichten umgesetzt haben. Eine als erfolgreich getestete Strategie dabei ist, dass sich die Teilnehmer beim Schreiben ganz genau vorstellen sollen, wie sich die Situation, in der sie ihre Absichten umsetzen wollen, anfühlen wird, inklusive Details und Sinneswahrnehmungen. „Episodisches Zukunftsdenken“ nennt sich das – und ist laut Altgassen auch eine hilfreiche Form des Journaling.
Zurück zu meinem Selbstversuch. Schon an Tag Drei, nach einem aufwühlenden Telefonat, merke ich, dass ich zu solch schmerzhaften Empfindungen viel mehr schreibe als zu den positiven. Rückblickend werden circa 70 Prozent der Einträge in diesem einen Monat teilweise oder ganz mit Liebe, Verletztheit, Ausweglosigkeiten, Angst, Verlust zu tun haben. Das Gefühlschaos in meinem Inneren schlägt sich in meinem Journal nieder. Die entsprechenden Einträge sind nicht perfekt formuliert, sie sind roh, wirr, unordentlich. Die Gedankengänge sehr repetitiv. Immer wieder stelle ich mir Fragen, auf die ich keine Antworten finde. Aber da man sowieso nicht erwarten darf, dass meine Einträge eines Tages zu so hochgeistiger Literatur wie die eines Wildes, Goethes oder Kafkas werden, ist das egal. Ich schreibe hier für niemanden außer mich. Ich lasse die Worte einfach so auf das Papier fließen, wie sie mir gerade in den Sinn kommen.
Eigentlich ist es schade, dass ich traurigen Emotionen automatisch viel eher Einträge widme als den guten. Laut Altgassen ist das aber völlig normal: Negative Dinge beschäftigen uns mehr, zu ihnen spulen wir häufiger im Kopf zurück. Eine Erfahrung müsse schon außergewöhnlich positiv sein, dass man länger über sie schreibt.
Angelika Krauß, die in Mainz eine Praxis für psychologische Beratung und Therapie führt, fügt dem hinzu, es käme dabei auch sehr auf das soziale Umfeld an: Je negativer das ist, desto schwerer sind unsere Gedanken. Sollte man daher aktiv dagegen angehen, ständig nur negative Emotionen zu beschreiben und sich stattdessen mehr auf das Positive konzentrieren? „Natürlich ist es auch wichtig, alles, was man in der Vergangenheit erlebt hat, zu akzeptieren und es anzunehmen, um nicht dagegen kämpfen zu müssen“, sagt Krauß. Mantras wie „Ich darf nicht krank sein“, „Ich soll positiv denken“ oder „Ich darf nicht weinen“ funktionierten nicht und erhöhten nur noch mehr den Kampf gegen die Realität und uns selbst. Trotzdem gibt sie ihren Patienten immer wieder Impulse, um die Aufmerksamkeit auch auf schöne Aspekte zu lenken. Diese würden ihnen helfen, ihre eigenen Bedürfnisse kennenzulernen und Ziele zu formulieren.
Die negativen Emotionen blieben in Deutschland
Freitag, 28. April: Ich beschließe, es einmal damit zu versuchen, täglich drei schöne Dinge oder Momente aufzuschreiben, die ich erlebt habe. An diesem Tag fallen mir auf Anhieb fünf ein, ich entscheide mich für folgende: 1. Ich habe entdeckt, dass es in meiner Nähe in der Mainzer Neustadt einen tollen Supermarkt gibt, den ich mit dem Rad erreichen kann. 2. Ich bin durch eine laue Frühlings-Abendluft geradelt. 3. Ich habe abends auf YouTube Folgen einer KiKa-Serie wiederentdeckt, die ich als Kind immer geschaut habe.
Nur einen Tag später komme ich gerade so auf zwei kleine schöne Dinge. So ist das Leben halt.
Laut Beyer, der Schreibmentorin, die als Kind Mobbingerfahrungen machen musste, kann es prinzipiell schon helfen, jeden Tag Dinge zu notieren, für die man dankbar ist. Es unterstütze uns dabei, „unsere Gedanken und Gefühle auf das Schöne auszurichten“, was die Lebensqualität steigern solle. Auch die Psychologin Krauß empfiehlt ihren Patienten immer wieder solche Übungen. Man übe dadurch, Dinge wahrzunehmen und mehr zu schätzen. „Dankbarkeit zwingt uns, in die Gegenwart reinzukommen“, sagt sie. Denn die meisten Menschen würden sich mit ihren Gedanken zu sehr in der Vergangenheit oder der Zukunft bewegen, was ein Nährboden für Ängste und Depressionen sei.
Doch sollte man bei diesen Methoden auf genug Abwechslung achten. Nach der Erfahrung von Beyer fühlen sich „viele beim täglichen sturen Wiederholen dieser Dankbarkeitspraxis alles andere als happy“. Es sei ein bisschen so, als würde man beim Sport immer die gleichen Muskeln trainieren. Daher rät Beyer zu mehr Varianz. Alternative Fragen könnten zum Beispiel „Was war heute mein Lieblingsmoment?“, „Was hat heute überraschend gut geklappt?“ oder „Wer hat mich heute zum Lachen gebracht?“ sein.
Donnerstag, 4. Mai: Ein sehr emotionales, bittersüßes Wiedersehen mit einer sehr wichtigen Person nach Monaten der Trennung. Doch aus irgendeinem Grund sitze ich danach vor dem Journal und weiß nicht, was und wie ich schreiben soll. Dabei quillt mein Herz nur so über vor Emotionen und mein Hirn vor Fragen – aber nichts davon findet seinen Weg auf das Papier. Zum allerersten Mal verspüre ich nicht das Bedürfnis, die Gefühle niederzuschreiben. Warum, weiß ich nicht. Ich lasse zu, dass es mich kurz frustriert, doch dann erkenne ich, dass das dazugehört. So wie man im Leben nicht perfekt ist, ist man es beim Journaling auch nicht.
Mittwoch, 10. Mai: An diesem Abend vergesse ich, in mein Journal zu schreiben. Ich war in der Heimat unterwegs mit alten Freunden und falle danach nur noch müde ins Bett. Am nächsten Tag habe ich ein schlechtes Gewissen, als ich den Eintrag nachhole. Wieso eigentlich? Kann doch mal passieren. Ich nehme mir vor, flexibler zu werden und das nächste Mal den Eintrag einfach auszulassen, wenn ich kein drängendes Bedürfnis danach spüre. Journaling sollte kein Stress sein. Und nicht wie in meiner Kindheit irgendwann zu einer eingebildeten Pflicht werden.
Von Sonntag, 14. Mai, an, mache ich mit einer Freundin einen Kurztrip nach Portugal. Das Journal nehme ich mit, schreibe aber wenig. Der Mini-Urlaub ist so schön und erholsam, dass es nichts gibt, das ich verarbeiten muss. Die negativen Emotionen sind in Deutschland geblieben. An diesen Tagen fällt es mir nicht schwer, drei schöne Momente aufzuschreiben.
Negative Gedankenspiralen: Grenzen des Journaling
So sehr das Journaling in einigen Dingen die Seele erleichtert kann, ist es kein Wundermittel. Die Positionen, die Tagebuchschreiben direkte Nachteile zuschreiben, sind rar gesät. Doch es gibt sie. Anfang des Jahrtausends zeigte sich in einer Studie der Glasgow Caledonian University, dass es unter Umständen sogar krank machen kann. Das Forscherteam verglich die Gesundheitswerte von Menschen, die ein Journal führten mit denen, die es nicht taten. Das Ergebnis: Das Aufschreiben von traumatischen Erfahrungen führte nicht zur innerlichen Erlösung, sondern verursachte unter anderem Kopfschmerzen und Schlafstörungen. Auch wenn das Resultat nicht verallgemeinerbar ist und stark diskutiert wurde, bleibt jedoch eins: Tagebuchschreiber wühlen oft länger und intensiver in ihrem Gefühlsmist als andere. Und dabei kann es passieren, dass man in eine negative Gedankenspirale abrutscht. Die Mainzer Professorin Altgassen sieht in gehäuft negativen Einträgen zum selben Thema aber auch eine Art Chance, einen Katalysator: Die wiederholte Konfrontation könne dazu führen, dass man sich denkt: „Hey, jetzt schreibe ich schon immer darüber, jetzt muss ich echt mal etwas ändern“.
Auch Vanessa Beyer hatte schon Phasen, in denen ihr das Schreiben nicht geholfen hat. Als sie einen ihrer liebsten und wichtigsten Menschen beim Sterben begleitete, merkte sie, dass es sie nicht von ihrer Trauer befreien konnte. In solchen Situationen sollte man sich Hilfe von außen holen. Denn so positiv sich Journaling auf die Emotionsverarbeitung auswirken kann, es ist kein Allheilmittel. Der Meinung ist auch die Psychologin Krauß. Bei psychotischen Patienten, „bei denen man zwischen Realität und Fiktion nicht unterscheiden kann“, finde das heilende Tagebuchschreiben seine Grenzen. Dasselbe trifft laut Altgassen auch auf Fälle von Essstörungen und Anorexie zu. Wenn betroffene Personen immer wieder festhalten, wie wenig sie gegessen oder wie viel Gewicht sie verloren haben, werde dieses Verhalten durch das Aufschreiben eher noch verstärkt. Allgemein hänge es aber immer vom Individuum selbst ab, ob Journaling hilfreich sein kann oder nicht, verallgemeinern lasse sich das nicht.
Niemals ohne Tagebuch verreisen
Am Donnerstag, 18. Mai, endet mein Selbstversuch offiziell. Fazit? Es ist ein Prozess. Ich gebe zu, aus Angst davor, was für unbequeme Wahrheiten sich mir über mich im Laufe dieses Versuchs offenbaren würden, war ich anfangs nicht ehrlich genug zu mir selbst – ich stelle also fest: man muss sich völlig aufs Journaling einlassen. Und daraus ergibt sich gleich noch eine zweite Lehre: Journaling muss man erstmal üben. Nur so findet man heraus, welche Strategien funktionieren und welche nicht.
An manchen Tagen habe ich mich richtiggehend gefreut, einen Eintrag verfassen zu können, an anderen jedoch saß ich abends mitunter recht ratlos davor. An manchen Tagen habe ich Seiten gefüllt, an anderen schrieb ich gerade einmal drei Sätze. Manchmal hatte ich das Gefühl, vor allem negative Dinge aus meinem Inneren damit nur wieder und wieder durchzukauen. Dann wiederum war es hilfreich, mich mehr mit meinen Ängsten und Sorgen auseinanderzusetzen und sie, sei es auch nur für ein paar Stunden, aus meinem Kopf in dieses Buch zu verbannen und es dann einfach zuzuklappen. Mein Journal ist sozusagen zum Blitzableiter für Herz und Hirn geworden.
Werde ich weitermachen? Ich denke schon. Vielleicht nicht jeden Tag. So, wie ich es brauche. Denn das Schöne ist: Es gibt beim Schreiben keine Regeln, eine feste Routine ist manchmal sogar eher hinderlich. Locker und flexibel sollte es sein, keine zu hohen Erwartungshaltungen (weder an sich selbst noch an das Journal). Beyers Tipp für eine „nachhaltige Journaling-Praxis“ ist dementsprechend, dass man das Schreiben an die Bedürfnisse seiner aktuellen Lebensphase anpasst. Dabei sollte man sich immer fragen: „Was brauche ich gerade, wobei soll mir das Journal helfen? Und wie kann ich mir das möglichst einfach und angenehm machen?“ Hat man zum Beispiel Stift und Buch immer in der Tasche dabei, kann man je nach Lust und Laune einfach zwischendurch etwas aufschreiben – und bleibt so eher am Ball. Vielleicht halte ich es zukünftig also einfach wie Oscar Wilde, der schrieb: „Ich reise niemals ohne mein Tagebuch.“
Zum Original