Stefanie Sommer

Journalismus-Studentin | FAZ, Mainz

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Balkon-Gemüse für Anfänger

Heiter bis wolkig mit Aussicht auf Radieschen: Ein begrünter Balkon kann sich positiv auf das persönliche Wohlbefinden auswirken.

„Das Leben beginnt mit dem Tag, an dem man einen Garten anlegt", so lautet ein altes chinesisches Sprichwort. Und das stand eines Morgens im Jahr 2016 auch auf dem Teebeutel des Yogi-Tees von Anna Meincke. Vor Kurzem in ihre Wohnung in Duisburg gezogen, stand die studierte Ökologin vor der Frage, was mit der Dachterrasse anzustellen sei, die zu ihrem neuen Heim gehörte. Wäre ja doof, wenn man die nicht nutzt, dachte sich die damals 27-Jährige. Angesichts des Spruchs auf ihrem Teebeutel fühlte sie sich auf einmal an ihre Kindheit erinnert, in der sie mit ihrer Mutter, einer Floristin, und ihren Großeltern, gelernten Gartenbauern, im Gemüsebeet gehockt und Zuckerschoten genascht hatte. Und so entschied sich Meincke dazu, auf ihrer Terrasse Gemüse anzubauen: Radieschen, Tomaten, Salate.


Seitdem hat sie damit nicht mehr aufgehört. Mit ihrem 2022 in Erfurt gegründeten Unternehmen „Dachgemüse" versucht die 34-Jährige, wieder mehr Grün in die thüringische Hauptstadt zu bringen - zum Beispiel mit einer auf einer alten Gleisanlage angelegten Stadtfarm. Das hier erzeugte Gemüse wird per Abo-Box-Modell verkauft. Mit dem Projekt möchte sie beweisen, dass es auch auf kleinen Flächen in einer Stadt möglich ist, wirtschaftlich Gemüse anzubauen. Und auch ihr gerade im Löwenzahn-Verlag erschienenes Buch „Stadtgemüse" soll seinen Teil dazu beitragen, Großstadt und Natur wieder mehr zusammenzubringen.


Nun ist die Sache mit dem Garten, ohne den das Leben laut dem chinesischen Kalenderspruch ja nicht anfangen kann, vor allem für Menschen in einer Großstadt nicht immer so einfach. 2021 wohnten nach Angaben der Statistik-Plattform Statista 77,5 Prozent der Deutschen in einer Stadt, rund 30 Prozent sogar in einer Großstadt. Gleichzeitig haben insgesamt nur 17 Millionen deutsche Haushalte einen Privatgarten. Etwa fünf Millionen Menschen nutzen nach Schätzung des Bundesverbands Deutscher Gartenfreunde rund 900.000 Schrebergärten. Übrig bleiben rund 60 Millionen Menschen ohne direkten Zugang zu heimischem Grün.


Und auch nicht jeder von ihnen ist wie Anna Meincke schon mit einem grünen Daumen auf die Welt gekommen, mit einer geräumigen Dachterrasse gesegnet oder direkt zur Miete eines Kleingartens bereit. Wie aber lassen sich trotzdem Radieschen oder sogar der eigene Salat anbauen? Wir haben die Expertin daher um einige nützliche Tipps gebeten, wie sich auch in der Stadt auf dem Balkon, im Hinterhof oder sogar im Keller ganz leicht eigenes Gemüse anpflanzen lässt.


How to: Stadtgemüse für Anfänger

Der Frühling, der langsam in Deutschland Einzug hält, ist der perfekte Zeitpunkt, um mit dem Projekt Gemüseanbau anzufangen, denn die meisten Sorten werden im März und April ausgesät. Ideales Einsteigergemüse für alle, die in gärtnerischen Angelegenheiten sozusagen noch grün hinter den Ohren sind, sind laut Meincke Radieschen. Auch Pflücksalate oder Erbsen seien geeignet. Denn bei diesen Pflanzen sehe man „schnell Erfolge und hat auch schnell was zum Ernten" - die Motivation, dranzubleiben, steigt. Radieschen sind das schnellste Gemüse, bereits nach vier Wochen kann man die kleinen Knollen aus ihrem erdigen Bett ziehen. Auch Pflücksalate brauchen nur etwa vier bis sechs Wochen, bis sie geerntet werden können.


Und überraschenderweise lassen sich selbst Kartoffeln relativ leicht auf dem heimischen Balkon züchten. Meincke erklärt: Man nehme einen Pflanzsack, befülle ihn zu zehn bis 15 Zentimeter mit Pflanzenerde, lege drei bis fünf gekeimte Kartoffeln hinein und bedecke sie wiederum mit Erde. Gießen. Dann heißt es warten, bis sich die ersten grünen Kartoffelblätter blicken lassen. Nun wieder mit Erde bedecken und warten. Dieses Spiel so oft wiederholen, bis der Sack voll ist. Wenn im Herbst das Laub der Blätter welk ist, den Sack ausschütten und zwei bis fünf Kilo reife Kartoffeln in Empfang nehmen. Zack, fertig sind die Zutaten für die nächsten Pommes frites!


Ist man mit diesen Anfängersorten erfolgreich, kann man sich in der nächsten Stufe an Karotten versuchen, da bedarf es bereits etwas mehr Geduld. Genauer gesagt drei Monate. Tomaten sind laut Meincke etwas für richtig Fortgeschrittene. Denn anders als die genügsamen Radieschen sind sie deutlich empfindlicher, nicht umsonst ist das Internet voll von „Die fünf ultimativen Tipps für deinen Tomaten-Anbau“-Artikeln. Zusammen mit Gurken und Paprika darf das wärmeliebende Nachtschattengewächs auch erst ab Mai draußen angepflanzt werden. Pflücken und auf die Bruschetta legen kann man die reifen Früchte dann nach etwa vier Monaten.

Bei der Wahl des Saatguts empfiehlt Meincke der Nachhaltigkeit wegen auf samenfeste Produkte zu setzen. Das heißt, „wenn ich das einpflanze und von der Pflanze später wieder Saatgut gewinne, hat das die gleichen Sorteneigenschaften, es ist nachbaufähig“. Man könne es immer wieder gewinnen und wieder aussäen. Im Baumarkt bekäme man meistens hybrides Saatgut, bei dem die Sorteneigenschaften, zum Beispiel Geschmack und Aussehen, im Laufe der Zeit verloren gehen.


Radieschen vom Dach

Der Anfang auf dem Weg zum eigenen Großstadt-Minibeet ist damit schon einmal gemacht. Aber was ist mit den räumlichen Voraussetzungen, Werkzeugen und sonstigen Dingen, die man beachten muss? Bei der Wahl des Ortes „spielt vor allem die Lichteinstrahlung eine wichtige Rolle“, sagt Anna Meincke. Je nachdem, wie viel Sonne man zur Verfügung hat, müsse man auch seine Pflanzen auswählen. Dabei gibt es eine relativ simple Faustregel: Alles, was eine Frucht bildet, braucht Sonne, alles, was nur Blätter hervorbringt, kann auch in den Schatten. Das heißt: Wer in den beneidenswerten Genuss eines Südbalkons kommt, kann hier vor allem die sonnenverliebten Tomaten und Gurken anbauen. Erbsen und Radieschen fühlen sich auf Ost- und Westbalkonen wohl, Salate haben auch an einem schattigen Zuhause auf einem Nordbalkon nichts auszusetzen.


Möchte man auf einer Dachterrasse etwas anpflanzen, müssen mehr Faktoren berücksichtigt werden. Durch ihre hohe Lage sind sie sehr windanfällig, da kann es für höher wachsende Sorten schon einmal ungemütlich werden. Windtolerant sind vor allem Wurzelgemüse, wie zum Beispiel Karotten, Rote Bete und Radieschen, sowie Salate. Zudem sorgt der ungeschützte Platz dafür, dass die Pflanzen sehr viel Regen abbekommen. Daher ist es laut Meincke wichtig, Kübel oder Pflanzkästen mit einem oder mehreren Löchern unten drin zu nehmen, sodass überschüssiges Wasser ablaufen kann. „Sonst bildet sich Staunässe, und dann faulen die Wurzeln weg.“ Wer für den Gang in den Baumarkt zu faul ist, nimmt Holzkisten als Gefäße.


Hat man in seinem Haus noch eine Rumpelkammer oder ein Kellerabteil übrig, kann auch dieser Ort für den Anbau verwendet werden. Aufgrund des fehlenden Tageslichts gedeihen hier allerdings nur Pilze. Für Einsteiger sind vor allem Austernseitlinge geeignet, da „sie sehr tolerant gegenüber Umweltschwankungen sind“, sagt Meincke. Falls es sich bei dem Keller um einen Gemeinschaftskeller handelt, sollte man seine gärtnerischen Ambitionen aber aufgrund möglicher auftretender Gerüche erst mit den Nachbarn absprechen. Hat man weder einen Keller noch einen Balkon noch einen Innenhof oder eine Dachterrasse zur Verfügung, bleibt noch das Fensterbrett. In einem Blumentopf oder einer alten Konservendose gedeihen hier auf einem kuschelig sonnigen Plätzchen zum Beispiel Rucola, Basilikum, Petersilie oder Spinat.

Im Zweifel einfach die Hände benutzen

Viel Equipment benötigt der angehende Hobby-Gemüsegärtner nicht. Für das Minibeet auf dem Balkon oder der Dachterrasse braucht man laut Meincke neben einem Gefäß und Pflanzenerde „gar nicht unbedingt ein Werkzeug, denn man hat ja zwei Hände“. Zur Not täte es auch mal ein Esslöffel aus der Küche. Scheint offensichtlich, jedoch beobachtet Meincke in Bezug auf das Arbeiten mit den Händen im Dreck immer öfter eine gewisse Entfremdung: „Das wurde uns ein bisschen abtrainiert, weil alles immer hygienisch und sauber sein muss, aber eigentlich entspricht es schon der Natur des Menschen.“


Nicht vergessen darf man natürlich das Gießen. Auch wenn jede Pflanze unterschiedlich viel Wasser braucht, freut sich keine darüber, regelmäßig gebadet, geschweige denn ertränkt zu werden: „Klassischer Anfängerfehler ist, dass man es zu gut meint mit dem Gießen“, erklärt Meincke. „Im Hochsommer, wenn es so richtig knackig heiß ist, muss man aber schon jeden Tag gießen.“ Die bequemeren oder vergesslicheren Zeitgenossen unter uns können sich die Arbeit erleichtern: Vom simplen Loch in einer kopfüber aufgehängten Wasserflasche bis zum vollautomatischen Bewässerungssystem gibt es zahlreiche Hilfestellungen. Um herauszufinden, ob eine Pflanze wieder gegossen werden muss, kann man einfach kurz den Finger in die Erde stecken, um zu fühlen, wie feucht sie ist. Hängende Blätter können ebenfalls ein Anzeichen für zu wenig Wasser sein – oder für zu viel. Und auch hier gibt es eine Faustregel: Kräuter wie Rosmarin und Thymian und Wurzelgemüse brauchen weniger Wasser, Pflanzen mit großen Blättern und Früchten mit hohem Wasseranteil, wie Zucchini oder Gurken, mehr.


Aufpassen muss man auch bei der Aussaat des Gemüses. Wenn man die Pflanzen zu dicht nebeneinander setzt, haben sie keinen Platz, um sich zu entwickeln. „Am besten führt man sich einfach immer vor Augen, wie groß so ein Pflanze im fertigen Zustand ist“, rät Meincke. Wer sich dennoch unsicher ist, liest die richtigen Abstände auf den Saatgut-Tütchen ab.


Mit dem eigenen Balkon-Garten zurück zum bewussteren Konsum

Der eigene Gemüseanbau birgt Vorteile. Wer stand in den vergangenen Wochen noch nicht vor dem Gemüseregal und rümpfte die Nase angesichts der abermals gestiegenen Tomatenpreise? Laut dem Statistischen Bundesamt stieg ihr Preis 2022 um knapp 17 Prozent, bei den Gurken waren es sogar rund 26 Prozent. „Spätestens jetzt, wenn man sieht, wie viel Gemüse eigentlich kostet, hat man auf jeden Fall noch einen finanziellen Anreiz, sich selbst zu versorgen“, sagt Meincke. Zudem merke man erst, wenn man sein eigenes Gemüse anbaut, „wie viel Arbeit da drinsteckt, und dann schätzt man Lebensmittel anders wert“. Auch verbrauche man sie dann anders. „Zum Beispiel hat es sich eingebürgert, Karotten zu schälen und das Karottengrün wegzuschmeißen. Aber wenn man die gut abwäscht, kann man die Schale gut mitessen, und aus dem Karottengrün kann man auch noch etwas machen“, sagt Meincke. Pesto zum Beispiel. Denn gerade wenn man nur ein kleines Balkon-Beet habe, wolle man ja seine Ernte zu größtmöglichen Teilen auch verwenden.


Durch den eigenen Gemüseanbau, und sei es auch nur ein Radieschen-Pflänzchen für den Anfang, könne man also ein Stück weit zum bewussteren Konsum zurückfinden und frische, regionale Produkte mehr wertschätzen. In Zeiten der Klimakrise hat das auch noch andere Vorteile. Laut Angaben des Bundesinformationszentrums Landwirtschaft wurden 2021 nur 36 Prozent des in Deutschland verbrauchten Gemüses auch hier erzeugt. „Es hat mich immer genervt, dass im Supermarkt so viel importiertes Gemüse liegt“, sagt Meincke. „Das scheint mir unlogisch, weil ja auch hier theoretisch alles wächst.“ Legt man also wieder mehr Wert auf regionalen Anbau, könnte man CO₂-Emmissionen, die in der Lieferkette entstehen, deutlich reduzieren.


Und noch einen persönlichen Vorteil hat das Urban Farming: Von mehr Grün umgeben zu sein kann sich positiv auf die Psyche und das allgemeine Wohlbefinden auswirken. Nicht umsonst gibt es Studien, die nach einem Waldspaziergang einen Rückgang der Stresshormone im Körper beobachtet haben.


„Ein bisschen die Welt retten“

Neben diesem ganz persönlichen Nutzen können solch kleine Grünoasen auf Balkonen oder Dächern, so es denn genug gibt, auch für das Klima einer Stadt einiges leisten. Denn deutsche Städte werden zunehmend größer und dichter, aber gleichzeitig auch weniger grün. Das ruft laut Meincke viele negative Umwelteffekte hervor, zum Beispiel Überhitzungen im Sommer und Überschwemmungen bei Starkregenereignissen, da der Regen durch die vielen versiegelten Stellen vom Boden nicht aufgenommen werden kann. Zudem werde die Luft durch Abgase verunreinigt, und es gebe immer weniger Lebensräume für Insekten und Vögel. „Wir brauchen dringend wieder mehr Natur in den Städten“, fasst Meincke zusammen. Ein Quadratmeter begrünte Fläche in der Stadt könne zum Beispiel „jährlich 10 Gramm Feinstaub binden und 800 Gramm CO₂ aufnehmen“. Und Hummeln und Bienen ein neues Zuhause bieten.


Nicht umsonst heißt auch das erste Kapitel in Anna Meinckes Buch „Stadtgemüse“: „Mit Urban Gardening (ein bisschen) die Welt retten“. Es wäre vermessen zu sagen, dass man mit seinem kleinen Balkon-Beet das Stadtklima nachhaltig verbessern oder gleich der gesamten Klimakrise Einhalt gebieten kann. Aber es ist ein Anfang.





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