Was haben Gad Rüdiger G.,
ehemaliger Betreiber einer Mülldeponie in Norderstedt, und Irmgard F.,
ehemalige KZ-Sekretärin, gemeinsam? Zwei Jahre auf Bewährung. Ersterer erhielt
diese Strafe Anfang des Monats für das Anhäufen eines unfassbar großen
Müllbergs auf seiner Halde. Zweitere nun für die Beihilfe zum Mord an über
10.000 Menschen. Was wie ein Scherz der schlimmsten Sorte wirkt, ist Ausdruck
eines jahrzehntelangen Versagens der Justiz.
Das Urteil des Landgerichts
Itzehoe im Fall von Irmgard F. (97) wird wahrscheinlich das letzte in der Aufklärung
der Massenmorde der Nationalsozialisten sein. Doch die Chance, in der
Aufarbeitung des NS-Regimes ein echtes Zeichen zu setzen, ist lange verpasst. Von
den 1,7 Millionen mutmaßlichen Tätern, die die Datenbank der Zentralen Stelle
der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg verzeichnet, lebt heute nur noch eine
Handvoll Menschen. 77 Jahre hatte man Zeit, tausende Täter, die nach Kriegsende
ein normales Leben weiterführten, vor Gericht zu bringen. Doch passiert ist erschreckend
wenig.
Nach Angaben des Instituts für Zeitgeschichte gab es insgesamt etwa 36.000 Verfahren, nur in 16 Prozent davon wurde Anklage erhoben. Der Prozess von Irmgard F. ist einer dieser wenigen. Doch zwei Jahre auf Bewährung wirkt wie ein Schlag ins Gesicht der Überlebenden und der Hinterbliebenen der Opfer. Das Alter der Angeklagten hin oder her – die Strafe für Beihilfe zum Mord in solchem Ausmaß darf keine Abstufungen kennen. Übrigens: Der Müllberg in Norderstedt soll bald abgetragen werden. Der in Deutschlands juristischer NS-Aufarbeitung wächst weiter.
Anmerkung: Dieser Kommentar entstand im Dezember 2022 im Rahmen des Masterstudiums am Journalistischen Seminar der JGU Mainz.