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Gebärden lernen für alle?

Niklas (12) und Elena (9) sind gehörlos. Im Gegensatz zu ihren ebenfalls gehörlosen Eltern sind sie mit der Österreichischen Gebärdensprache (ÖGS) aufgewachsen. In einer NMS und einer Volksschule im Bezirk Krems werden sie integrativ unterrichtet und haben jeweils eine ÖGS-Pädagogin, die sie stundenweise unterstützt.

Ihre Eltern haben erst sehr spät ÖGS erlernt. Sie sind nicht die Einzigen. Allein in Niederösterreich leben momentan 1.600 gehörlose und 319.000 schwerhörige Menschen. 139 Kinder im Bundesland haben unterschiedliche Arten der Hörbeeinträchtigung und werden integrativ oder in Sonderschulen unterrichtet. Ob und wie sie ÖGS lernen und nutzen, ist unterschiedlich.

Die siebenjährige Mia (Name geändert) etwa ist an Taubheit grenzend schwerhörig. Sie geht im Bezirk Waidhofen/Thaya in die Volksschule und hat dort eine Stützpädagogin. Mit ihren Hörprothesen versteht sie Lautsprache. Um sich richtig auszudrücken, hat sie diese mit Teilen der ÖGS verknüpft. „Sie wird immer in beiden Welten zuhause sein, da sie ohne die Geräte nichts hört", sagt ihre Mutter. Ihre Situation sei ein Glücksfall, Mias Klassenlehrerin ist sehr engagiert.

Nur 45 Lehrer können die Gebärdensprache

Dass der integrative Unterricht von gehörlosen Kindern oft vom Engagement einzelner Lehrpersonen abhängen, sagen auch andere Familien. Generell ist das ÖGS-Angebot an niederösterreichischen Schulstandorten gering, heißt es vom NÖ Gehörlosenverband. Und es mangelt an Lehrpersonal: Von den 23.000 Lehrkräften in Niederösterreich würden nur rund 45 ÖGS beherrschen, wenige davon wirklich gut. Für die Ausbildung von ÖGS-Pädagogen brauche es mehr Ressourcen. Einen rechtlichen Rahmen, Stundenpläne oder standardisiertes Lernmaterial, um ÖGS zu unterrichten, gibt es nicht. Das soll sich bald ändern: durch sechs neue ÖGS-Lehrpläne, einsetzbar von der Volksschule bis zur Matura.

Diese Sprachlehrpläne, die jenen für andere Sprachen wie Deutsch oder Französisch ähneln, sollen freiwillig von Schulen verwendet werden können. Damit kann ÖGS im Zeugnis stehen und einen Platz im Stundenplan haben. Egal ob gehörlos oder hörend, ÖGS soll in Zukunft von allen Schulkindern als ihre Muttersprache oder als lebende Fremdsprache erlernt werden können. Sie kann ein Freifach oder Wahlpflichtfach sein oder in Schulfächer wie Mathematik einbezogen werden. Soweit die Theorie.

Lehrpläne seit 2018 fertig - aber noch nicht eingeführt

Die Lehrpläne hat das Bildungsministerium 2016 beauftragt, seit 2018 sind sie fertig. An den Schulen sind sie noch immer nicht. Seit ÖGS 2005 in der Verfassung als Sprache anerkannt wurde, gibt es Forderungen für ÖGS auf Lehrplanbasis: „Wir haben beim Bildungsministerium immer wieder den dringenden Bedarf deutlich gemacht", sagt Lukas Huber, Obmann des NÖ Gehörlosenverbandes. „Wir wurden lange vertröstet: Ibiza, die Pandemie, etc." Nach Jahren des Stillstands sei man nun froh, dass sich etwas bewege.

Diesen Sommer beschloss der Nationalrat einstimmig, dass es einen „kompetenzorientierten, bedarfsgerechten und differenzierten Lehrplan zur ÖGS" bis 2023/24 geben soll. Die Parlamentsfraktionen kritisierten jedoch die bereits vorliegenden Lehrpläne als zu wenig inklusiv. Ob diese nun komplett überarbeitet oder nur ergänzt werden, sei noch nicht klar.

Das Ziel des Österreichischen Gehörlosenbundes sei jedenfalls, dass bald jeder ÖGS lernen kann, der möchte. Sprachwissenschaftlerin Verena Krausneker von der Uni Wien erarbeitete die neuen Lehrpläne mit gehörlosen und hörenden Experten. Sie ist überzeugt, dass die Pläne wichtig für die Anerkennung der ÖGS als autochthone österreichische Sprache sind: „ÖGS als marginalisierte Sprache bekommt endlich einen offiziellen Platz im Bildungswesen."

Gehörlosenverband Niederösterreich: http://www.gehoerlos-noe.at/

Gemeinschaft Eltern und Freunde Hörgeschädigter: www.elternundfreunde.at
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