Europa ist ohne Einwanderung undenkbar. Archäologische und genetische Untersuchungen zu prähistorischen Europäern zeigen, dass der Kontinent vor rund 800.000 Jahren leer war, bevor er aus Afrika besiedelt wurde. In der Jungsteinzeit vor rund 7.000 Jahren folgte ein weiterer Zuzug von Menschen aus dem Nahen Osten. Die Archäologen Detlef Gronenborn und Rainer Schreg vom Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz (RGZM) erforschen, was Einwanderer nach Europa zog und wie sie empfangen wurden.
Herr Gronenborn, Sie erforschen die Entstehung europäischer Gesellschaften in der Jungsteinzeit, vor etwa 7.000 Jahren. Was macht einen Europäer aus?
Gronenborn: Menschen sind in Europa nicht indigen, also nicht in Europa entstanden. Wir sind alle eingewandert. Es gibt keinen, der nicht aus Afrika gekommen ist. Man kann sagen, dass wir alle Fremde sind. Und jeder hat seinen Anteil am Anderssein. Uns interessiert, wann welche Bevölkerungsgruppe gekommen ist, und wie sich unser modernes, extrem vielschichtiges Europa zusammensetzt.
Was ist die größte Herausforderung dabei?
Schreg: Die Ursachen von Migration sind archäologisch ganz schwer zu fassen, weil wir den Skelettresten im Grab nicht ansehen, was die Menschen veranlasste, in neue Regionen zu kommen. Deshalb schauen wir uns zum Beispiel Schriftquellen aus jüngeren Perioden an, prüfen ob bekannte Muster auf das archäologische Material zu übertragen sind und hoffen, dass uns das auch für ältere Perioden neue Einblicke liefert.
Vor rund 7.000 Jahren kamen Bauern auch aus dem Gebiet des heutigen Syrien und der Osttürkei nach Europa. Was bewog sie, ihre Heimat zu verlassen, obwohl sie für die Landwirtschaft so geeignet war, dass sie auch als „fruchtbarer Halbmond" bezeichnet wird?
Gronenborn: Es könnten verschiedene Komponenten gewesen sein: Überbevölkerung und Klimaveränderungen, die viel massiver waren als alles, was wir in der Neuzeit erlebt haben. Möglicherweise auch soziale Prozesse und interne Konflikte. Die Leute waren in Not, wirtschaftlich, vielleicht auch politisch. Wahrscheinlich haben auch technische Innovationen eine Rolle gespielt, die es den Menschen erlaubten, in weitere Regionen vorzustoßen. Größere Haustypen zum Beispiel, mit denen man im regenreichen Mittel- und Westeuropa besser Vorratshaltung betreiben konnte. Auch das Getreide hatte sich an die feuchteren Gebiete angepasst. Das sind Prozesse, die langsam ablaufen.
Mit welcher Geschwindigkeit wanderten die Menschen nach Europa?
Gronenborn: Sie haben schnell weite Distanzen durchwandert, sind aber nicht ins Blaue gezogen. Früher ging man davon aus, dass die Leute immer nur ein paar Kilometer gewandert sind. Aber wir stellen heute fest, dass große Distanzen, etwa 800 Kilometer, auf einmal überwunden wurden. Was aber nicht geht, ohne dass die Leute dieses Gebiet kannten. Da gab es Pioniere, Jäger, sozusagen Individualreisende, die das Territorium erkundet haben.
Wissen wir, auf welchen Routen sie gekommen sind?
Gronenborn: Sie kamen über Anatolien, Griechenland, den Balkan und Ungarn. Tatsächlich sind die heutigen Flüchtlingsrouten aus Syrien mehr oder weniger die gleichen. Sie sind naturräumlich vorgegeben. Griechenland lag auch damals gegenüber der türkischen Küste. Die Bergpässe haben sich nicht verändert. Oft folgen unsere modernen Straßen antiken oder sogar prähistorischen Wegen. Zumindest die großen Wege können wir bis in die Steinzeit zurückverfolgen.
Schreg: Auch das Mittelmeer verbindet eigentlich mehr, als dass es trennt. Heute sehen wir das Mittelmeer als Südgrenze Europas an. Aber in der Antike war es ein Binnenmeer, das die Kontinente verband. Insofern kann es nicht verwundern, wenn Flüchtlinge heute über das Meer kommen. Und dass sie dann die kurze Route über die Ägäis nehmen, ist verständlich.
Kann man etwas zur Größenordnung der Einwanderung in der Jungsteinzeit sagen?
Gronenborn: Ich kann keine Zahl nennen. Wir wissen nur, dass das keine Masseneinwanderung war. Insgesamt waren vielleicht mehrere hundert bis tausend Menschen unterwegs. Es wanderten keine größeren Gruppen aus, sondern Familien. Die allerersten Siedlungen der Einwanderer bestanden in der Regel nur aus wenigen Häusern.
Anders als bei der ersten Besiedelung war Europa vor 7.000 Jahren nicht mehr unbewohnt.
Hat man Spuren gefunden, dass die einheimische Bevölkerung versucht hat, die Einwanderung zu bekämpfen oder sie zu verlangsamen?
Gronenborn: Nein. Früher hat man behauptet, zwischen den Einheimischen und den Einwanderern habe es Konflikte gegeben. Man hat sich das vorgestellt wie im Wilden Westen, Cowboys und Indianer. Die neuere Forschung ist der Meinung, dass die Konflikte eher innerhalb der eingewanderten Gesellschaften entstanden. Als diese wuchsen, bekriegten sie sich untereinander. Wir können Konflikte mit den Einheimischen nicht ausschließen, aber eigentlich sehen wir in vielen Landschaften, dass die Kontakte spärlich waren. Es gab allerdings auch Austausch, Kooperation bis hin zur Assimilation.