2 Abos und 2 Abonnenten
Artikel

Wie „Herr Anwalt" aus Dortmund ein TikTok-Star wurde

Als „Herr Anwalt“ klärt Tim Hendrik Walter aus Dortmund auf TikTok über Rechtsfragen auf – und erreicht damit Millionen von Menschen. Foto: weCreate

Dortmund. Tim Walter aus Dortmund ist einer der erfolgreichsten TikToker Deutschlands. Als „Herr Anwalt" spricht er online über Jura und Rechtsfragen.

Er war schon immer „ein kleiner Rechthaber", sagt Tim Hendrik Walter. Und er wusste auch schon immer, dass er als Anwalt arbeiten möchte - genau wie sein Vater. Dass ihn diese Arbeit einmal berühmt machen würde, damit hat Walter allerdings nicht gerechnet. „Mittlerweile werde ich sehr oft auf der Straße erkannt", erzählt der Familienrechtler. „Anfangs häufig von Schülern, aber mittlerweile auch von Leuten in meinem Alter."

Sie alle kennen ihn aus seinen Videos, die er als „Herr Anwalt" auf TikTok hochlädt. Auf der chinesischen Videoplattform folgen dem gebürtigen Dortmunder mehr als 6,2 Millionen Menschen, seine Videos gehen regelmäßig viral. Damit ist sein Account einer der erfolgreichsten Deutschlands.

„Hi Herr Anwalt, du bist mein Idol!", „Du bist der Beste!" oder „Ich liebe diesen Mann!" lauten die Kommentare unter seinen Postings. Dabei spricht Walter über Themen, die auf den ersten Blick nicht sonderlich unterhaltsam wirken: Jura und Rechtsfragen.

Bereits seit 2019 veröffentlicht er seine Kurzvideos, die Titel tragen wie „Was darf man mit 18?", „Dürfen Eltern alle Handynachrichten lesen?" oder „Muss das Hotel Auskunft über deine Affäre geben?". Walter sagt über sich selbst, dass er schon immer „ein Kind des Internets" war: „Als Jugendlicher habe ich viel Zeit im Bereich Gaming verbracht. Irgendwann habe ich mir dann überlegt, dass ich ein bisschen über das Jurastudium und Klassikerfälle berichten könnte."

In seinem allerersten Video klärte er darüber auf, ob Lehrkräfte Schülerinnen und Schüler schlagen dürfen. Mittlerweile hilft er seinen Followerinnen und Follower nicht mehr nur bei Rechtsfragen, sondern informiert sie auch über die aktuelle Nachrichtenlage - etwa über die 200-Euro-Einmalzahlung für Studierende, die Streiks im Öffentlichen Dienst oder die Preiserhöhung bei Krombacher.

All das macht er in seiner Freizeit, da er hauptberuflich in einer Kanzlei in Unna arbeitet. „Während der Mittagspause überlege ich mir meist schon Themen und recherchiere beim Essen etwas an. Abends und am Wochenende erstelle ich dann die Videos", erzählt er.

In seinen Videos greife er nur Themen auf, die ihn selbst interessieren - und erklärt sie den Jugendlichen stets auf Augenhöhe. „Man muss die Fragen der jungen Menschen beantworten. Wenn es in ihrer Lebensrealität eine Rolle spielt und in ihrer Sprache stattfindet, dann wird es gut ankommen", sagt Walter über den Erfolg seines Accounts.

„Herr Anwalt" ist nicht der Einzige, der diese Strategie verfolgt. Digitale Bildungsformate, die Information und Unterhaltung verbinden, sind im Trend. TikTok will zur Lern-Plattform werden. Mehrere Millionen Euro lässt sich die App ihre Initiative #LernenMitTikTok kosten - und schafft es damit immer häufiger in deutsche Klassenzimmer.

„Vor der Corona-Pandemie haben viele Lehrkräfte TikTok noch als Konkurrenz zu ihrer Arbeit wahrgenommen. Da gab es einen großen Widerstand. Das hat sich geändert", sagt Bildungs- und Jugendforscher Klaus Hurrelmann. Viele Lehrkräfte hätten realisiert, dass gut aufbereitete Lernvideos auf TikTok, Youtube oder Instagram ihre Schülerinnen und Schüler mehr ansprechen als der klassische Frontalunterricht.

„Unterricht kommt nun mal aus der Tradition der Belehrung. Die Lernvideos kommen hingegen nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern spielerischer. Das kann eine gute Lehrkraft auch, aber das ist natürlich nicht das Standard-Format im Unterricht", so Hurrelmann. Um ihre Schülerinnen und Schüler - „die von Babybeinen an dieses digitale Format kennen" - besser zu erreichen, sollten sich Lehrkräfte die Bildungsformate der Sozialen Medien zum Vorbild nehmen.

Sie könnten beispielsweise selbst Lernvideos drehen oder die Angebote anderer „Bildungs-Influencer" in ihren Unterricht integrieren. „Einige Schulen haben das schon richtig zum Programm gemacht", sagt der Bildungsforscher. Das hat aus seiner Sicht viele Vorteile: Mithilfe von Apps und Videos könnten sich Schülerinnen und Schüler den Lernstoff selbstständig und in ihrem eigenen Tempo aneignen.

„Sie kommen also mit Basiswissen in den Unterricht und können dann zusammen mit der Lehrkraft letzte Verständnisfragen klären und den Lernstoff anwenden. Dadurch wird der Unterricht wieder viel spannender."

Das Problem: In einer Befragung unter Schülerinnen und Schülern während der Corona-Pandemie gaben 40 Prozent an, dass ihre Lehrkräfte digital überhaupt nicht informiert seien. „Es ist falsch, das den Lehrkräften vorzuwerfen. Im Gegenteil: Wir haben zu lange nur auf die Eigeninitiative der Lehrkräfte gesetzt", sagt Hurrelmann, der an der Studie beteiligt war.

Er fordert umfassende Fortbildungen für Lehrerinnen und Lehrer. Eine weitere Forderung: „TikTok in die Schule holen". Hurrelmann geht es dabei vor allem um Medienkompetenz. „Wie funktioniert der TikTok-Algorithmus? Wie lerne ich, das Handy auch mal wegzulegen? Woran erkenne ich, ob ein Inhalt wahr ist oder ob ich gerade veräppelt werde?"

All dies seien Fragen, die Lehrkräfte beantworten sollten. Schließlich stellt TikTok besonders für junge Menschen ein hohes Risiko dar: Der Algorithmus kennt die Vorlieben der Nutzerinnen und Nutzer ganz genau - was es vielen nicht gerade leicht macht, sich von der App loszureißen. Das Suchtpotenzial ist groß. Außerdem gehen Videos schneller viral als in anderen Sozialen Medien. Auch solche, die Fake News und Propaganda verbreiten. „Das ist eine immense Gefahr", sagt Tim Walter.

Zwischen den vielen undurchsichtigen Informationen wird er für seine Followerinnen und Follower zur sicheren Quelle. „Ich glaube immer erst alles, wenn du es bestätigst oder ein Video darüber machst", kommentiert eine Userin. Eines Tages nur noch als Influencer-Anwalt zu arbeiten, das kann sich Tim Walter trotzdem nicht vorstellen, erzählt er: „Die Arbeit als Anwalt macht mir großen Spaß, hier kann ich individuell helfen."

Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Wochenende

Zum Original