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"Catcalling": Wie sich Essenerinnen gegen Belästigung wehren

Kim, Luise, Janet und Lasse (v.l.) setzen sich in Essen gegen „Catcalling“ ein – genau wie viele andere Aktivistinnen und Aktivisten im gesamten Ruhrgebiet. Foto: Socrates Tassos / FUNKE Foto Services

Hinterherpfeifen und sexistische Kommentare: Belästigung ist ein alltägliches Problem. So kreativ wehren sich Aktivistinnen aus dem Ruhrgebiet.

Janet greift zur neonpinken Kreide und schreibt damit große Buchstaben auf den Boden des Willy-Brandt-Platzes in der Essener Innenstadt. Viele Passanten und Passantinnen bleiben stehen, um ihren Text zu lesen: „,Hey Süße!’ Ich ignorierte ihn. Er verfolgte mich bis nach Hause.“

Mit Kreide-Botschaften wie dieser will die 22-Jährige auf das sogenannte „Catcalling“ (dt. Katzen-Rufen) aufmerksam machen. Darunter versteht man verbale sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum, wie etwa sexistische Sprüche, Luftküsschen oder Hinterherpfeifen.

In der gesamten Region setzen sich mittlerweile Aktivistinnen und Aktivisten gegen „Catcalling“ ein, zum Beispiel in Mülheim, Dortmund, Düsseldorf und Velbert. Ihnen geht es oftmals nicht mehr nur um sexistische Kommentare, sondern auch um körperliche Übergriffe – bis hin zu Vergewaltigungen.

Janet und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter schreiben seit 2020 in allen Stadtteilen regelmäßig die Erfahrungen auf, die Menschen in Essen gemacht haben – immer am Ort des Geschehens. Ankreiden nennen sie ihre Form des Protests. Auf ihrem Instagram-Account@catcallsofessen teilen sie im Anschluss die Fotos der Zeichnungen.

Über das soziale Netzwerk erreichen sie auch die Nachrichten der Betroffenen. „Ich stillte in der Fußgängerzone. Ich war komplett bedeckt und er sagte: ‘Boah, da will man doch auch noch mal Baby sein’“, berichtete beispielsweise eine Mutter. „Sie riefen: ‘Zieh mal Shorts an, dann siehst du noch geiler aus’’, schrieb eine andere Frau.

Mehr als 200 solcher Nachrichten hätten sie mittlerweile erhalten. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein, längst nicht alle Fälle werden der Gruppe gemeldet. Laut einer aktuellen Studie des Bundesfamilienministeriums haben 44 Prozent aller Frauen und 32 Prozent aller Männer bereits verbale Belästigungen erlebt. „98 Prozent haben einen sexuellen Hintergrund und etwas mit sexualisierter Gewalt zu tun“, sagt Kim über die Vorfälle in Essen.Die 32-Jährige hat die Gruppe gegründet hat, nachdem sie einen Fernsehbeitrag über New Yorker Aktivistinnen gesehen hatte. In den USA hat die Bewegung ihren Ursprungmittlerweile protestieren Menschen weltweit gegen „Catcalling“.

Die Essener Gruppe besteht aus einem Kernteam, in dem sich Kim, Janet, Lasse und Luise engagieren. Unterstützt werden die Vier von rund 15 weiteren Personen, die beim Ankreiden regelmäßig mit dabei sind.

Sie alle setzen sich gegen „Catcalling“ ein, weil sie es bereits selbst erleben mussten. „Ich kenne keine Person, die nicht schon mal von ,Catcalling’ betroffen war“, sagt Kim. In Essen seien es meist Frauen oder Menschen aus der queeren Szene, wie transgeschlechtliche oder nicht-binäre Personen, die sich an die Aktivistinnen und Aktivisten wenden.

Kim ist es jedoch wichtig zu betonen, dass Männer ebenfalls zu Opfer werden können. So schrieb zum Beispiel ein 16-Jähriger: „Als ich nach Hause lief, sagte ein älterer Mann zu mir: ,Du hast so einen geilen Arsch, den würde ich gerne mal in meinem Bett sehen’.“ Viele der an sie gesendeten Schilderungen würden noch weit über diese Art der Belästigung hinausgehen.

Häufig berichten Menschen von körperlichen Übergriffen – wie ihn auch Kim als 16-Jährige erleben musste: „Ich war mit dem Hund draußen. Im Vorbeigehen hat mir ein Typ einfach zwischen die Beine gegriffen. Ich war total perplex.“ Teilweise wenden sich sogar Frauen an die Gruppe, die vergewaltigt wurden.

„Wenn ich die Nachrichten lesen, bekomme ich Gänsehaut“, sagt Janet. „Aber da können wir selbst nicht weiterhelfen. Da ist das, was wir geben können, viel zu wenig.“ Auf ihrem Instagram-Profil verweisen die Aktivistinnen und Aktivisten daher auf professionelle Anlaufstellen, wie etwa den Weißen Ring, das Heimwegtelefon oder den Frauennotruf.

Bei ihrer Form des Protests geht es der Gruppe aber nicht nur darum, Betroffenen die Möglichkeit zu geben, sich über ihre Erfahrungen auszutauschen und ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Sie wollen die Gesellschaft dafür sensibilisieren, dass „Catcalling“ eben „kein Kompliment“, sondern vielmehr eine „Objektifizierung und Sexualisierung“ ist.

Eine Onlinepetition forderte bereits, dass „Catcalling“ in Deutschland unter Strafe gestellt wird. Knapp 70.000 Menschen unterzeichneten diese. Nach jetziger Definition liegt allerdings weiterhin nur bei körperlichem Kontakt eine Straftat vor.

In anderen Ländern ist verbale Belästigung hingegen illegal, zum Beispiel in Belgien und Portugal. Wer in Frankreich jemanden auf der Straße verbal belästigt, muss mit einer Geldstrafe von bis zu 750 Euro rechnen.

Den Essener Aktivistinnen und Aktivisten sei bewusst, dass die „Catcaller“ ihr Verhalten nicht einfach aufgrund der Kreide-Botschaften ändern werden. Für sie sei die Kombination aus Online-Protest und Aktionen auf der Straße jedoch der beste Weg, um möglichst viele unterschiedliche Menschen zu erreichen.

„Du kannst nicht über einen bunten Kreideschriftzug laufen. Es ist ein Eyecatcher. Ich glaube schon, dass es Leute nachhaltig zum Nachdenken bringt“, ist Janet überzeugt.

Oft würden sie noch während sie mit der Kreide auf den Boden malen angesprochen werden – und hätten so die Chance, nicht nur virtuell über Instagram aufzuklären. „Und wenn wir nur eine Person dazu bringen, ihr Verhalten zu überdenken“, sagt Kim „ist das schon ein großer Erfolg.“

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