Sophie Schädel

Freie Journalistin, Dortmund

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Schwangerschaftsabbrüche : Die Ärztin mit dem Dickkopf

Dickköpfigkeit ist eine gute Eigenschaft, findet Gabie Raven. Und dickköpfig muss sie sein, denn gegen ihre neue Praxis in Dortmund machen Abtreibungsgegner mobil. Sie drohen ihr und ihrem Personal und ziehen antisemitische Vergleiche. Doch die 61-Jährige weiß: So stigmatisiert der Schwangerschaftsabbruch auch sein mag, Frauen brauchen Ärztinnen wie sie. Also macht sie weiter.


Raven ist Niederländerin, in Roermond und Rotterdam betreibt sie bereits zwei Kliniken für Abbrüche. Dass sie jetzt nach Deutschland expandiert, hat einen Grund: Immer wieder behandelt sie in den Niederlanden deutsche Patientinnen, die die Frist für einen straffreien Abbruch in Deutschland verpasst haben und deswegen in die Niederlande kommen. "Die Frauen in Deutschland finden manchmal lange keinen Arzt, der den Abbruch macht. Und dann sind sie in der 14. Woche nach Empfängnis, und es ist zu spät. "


Tatsächlich fehlen in wie in ganz Deutschland Ärzte und Ärztinnen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Maria Preuß vom Sozialen Zentrum Dortmund, das auch Frauen mit ungewollter Schwangerschaft berät, betrachtet die Entwicklung mit Sorge: Vor zehn Jahren hätten hier noch neun Praxen Abbrüche vorgenommen; heute seien es drei, mit Gabie Ravens Tagesklinik vier. Das entspricht auch der bundesweiten Entwicklung: Zwischen 2003 und 2022 hat sich die Anzahl an Praxen und Kliniken für Schwangerschaftsabbrüche laut dem Statistischen Bundesamt halbiert. Das hat viele Gründe: Abbrüche sind in Deutschland illegal und nur unter bestimmten Regeln wie beispielsweise einer zeitlichen Frist straffrei. So steht es im Paragraf 218 des Strafgesetzbuchs. Auch die Stigmatisierung und der Protest von Abtreibungsgegnerinnen und -gegnern machten Angst, sagt Maria Preuß. Sie fordert: "Es muss eine Lösung gefunden werden, um Ärzte und Ärztinnen vor Bedrohungen zu schützen." Neben der Stigmatisierung und dem Verbot führen noch weitere Probleme zum aktuellen Personalmangel: Im Medizinstudium und der Facharztausbildung wird der Eingriff meist nicht gelehrt. Die Ärztinnen und Ärzte aus der 68er-Generation, die sich für das Recht auf Abtreibung einsetzte, gehen nach und nach in Rente und finden keine Nachfolge.



Was geschieht, wenn Frauen keinen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen haben, erlebte Gabie Raven schon früh: 1986, als sie gerade 25 Jahre alt war, arbeitete sie in einem Missionskrankenhaus im afrikanischen Sambia. Immer wieder seien Patientinnen mit für sie unerklärlichen Beschwerden in die Klinik gekommen. "Ich war so blöd, ich habe lange nicht verstanden, was mit ihnen los ist", erinnert sich die Ärztin. Nach einem halben Jahr habe sie das Vertrauen der Frauen gewonnen und erfahren: Sie waren schwanger, und ein Schamane hatte mit einem Kräutertrunk einen Abbruch versucht. Viele Frauen habe das das Leben gekostet. Auch die WHO kennt das Problem. Sie geht davon aus, dass weltweit rund 5 bis 13 Prozent der Müttersterblichkeit auf unsichere Abtreibungen zurückgehen.


Raven erinnert sich, wie entsetzt sie damals in Sambia war: "Das ist doch wirklich schrecklich, dass Frauen sterben müssen, nur weil sie kein Kind wollen!" Als sie zurück in die Niederlande kam, fing sie in einer Praxis für Schwangerschaftsabbrüche an. Sie wusste: Die Aufgabe ist unbeliebt, niemand will diese Eingriffe vornehmen. "Ich dachte: Na gut, dann mache ich das jetzt mal fünf Jahre und suche mir dann was anderes. Das ist jetzt 30 Jahre her."


Heute sind ihre Haare grau, Lachfalten haben sich rund um die blauen Augen ins Gesicht gegraben. Raven ist eine Frau mit Haltung, die sie klar und deutlich ausspricht - mit niederländischem Akzent und dem ein oder anderen Fluch in den Telefonhörer, hier hat sie Ruhe für ein längeres Gespräch. Dank ihrer deutschen Mutter und drei Jahren Arbeit in hiesigen Praxen beherrscht sie auch die deutsche Sprache gut.

Dass Raven sich auf Abbrüche spezialisiert hat, ist in Deutschland unüblich: Meist führen Ärzte und Ärztinnen sie als Leistung neben anderen gynäkologischen Standardbehandlungen durch. In Holland sei die Spezialisierung auf Abbrüche üblich, sagt Raven. Und sie kann ihr einiges abgewinnen: "Ich habe gemerkt, dass es schwer ist, etwas gut zu machen, wenn man es nur selten macht." Außerdem will sie ihren ungewollt schwangeren Patientinnen nicht zumuten, im Wartezimmer neben glücklich Schwangeren im achten Monat zu sitzen. Also bietet sie in ihrer Praxis in Dortmund ausschließlich Abbrüche an. Ab Januar plant sie zusätzlich Vasektomien, also Sterilisation von Männern, perspektivisch auch einmal Beratung zum Thema Verhütung. "Das ist mir wichtig. Wir wollen die Frauen ja nicht noch mal für einen Abbruch sehen."


Die Entscheidungsfreiheit von Frauen über ihren eigenen Körper und ihr Leben lehnen sogenannte Abtreibungsgegner und -gegnerinnen ab. An einem kalten Samstag Ende November stehen rund 70 von ihnen gegenüber auf dem Gehsteig, singen Ave Maria und beten. Es werden Kreuze geschwenkt, Rosenkränze gleiten durch die Finger. Im Aufruf zur Kundgebung ist von "Kindertötung" die Rede, obwohl ein Embryo zum Zeitpunkt eines klassischen Abbruchs gerade einmal wenige Millimeter bis Zentimeter misst, nicht überlebensfähig wäre und noch keinerlei Organe oder eine Körperform hat. Online wird Gabie Raven und ihren Mitarbeiterinnen explizit gedroht. In einem Text ist von US-amerikanischen Zuständen die Rede: "Dort wird in Abtreibungskliniken Feuer gelegt und geschossen. Das gibt es in Europa natürlich nicht. Noch nicht." Gabie Raven lässt sich davon nicht einschüchtern. Doch so schnell geben ihre Gegner und Gegnerinnen nicht auf.


Drei Tage nach der ersten Kundgebung, an einem Mittwochvormittag mit grauem Nieselregen, versammelt sich erneut Protest vor Gabie Ravens Klinik. Diesmal sind es nur drei Abtreibungsgegner, und sie sind unliebsame alte Bekannte: Raven kennt die Gesichter von Kundgebungen vor ihrer Klinik in Rotterdam. Sie haben einen alten Krankenwagen zu einem knallgelben Protestmobil umgebaut, den christliche Parolen zieren, und sind damit extra bis nach Dortmund angereist. Sie parken den gelben Wagen vor der Praxis und hängen daran ein Transparent mit der Aufschrift "Abtreibung ist Babycaust". Die Polizei nimmt es ihnen weg. "Scheußlich" findet Raven diese Proteste. Den rund 40 feministischen Demonstrierenden auf der Gegenseite bringt sie gemeinsam mit drei Mitarbeiterinnen holländische Waffeln und heißen Kaffee.


Kundgebungen vor Abtreibungspraxen und Beratungsstellen sind in Deutschland vom Versammlungsrecht geschützt, doch das soll sich bald ändern. Im Koalitionsvertrag versprechen SPD, Grüne und FDP: "Sogenannten Gehsteigbelästigungen von Abtreibungsgegnerinnen und Abtreibungsgegnern setzen wir wirksame gesetzliche Maßnahmen entgegen." Noch vor Jahresende will Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) einen Gesetzentwurf vorlegen, der die sogenannte Gehsteigbelästigung zur Ordnungswidrigkeit machen soll. Paus hält sie für eine Bedrohung für Personal und Patientinnen, die "nichts mit dem Demonstrationsrecht zu tun" habe. Bis zu so einer bundeseinheitlichen Regelung dürfen die Abtreibungsgegner wohl weiterhin vor Gabie Ravens Klinik protestieren. Sie ist froh, dass ihre Patientinnen unerkannt zur ihr kommen können und so wenigstens vor der direkten Ansprache von Protestierenden geschützt sind: Die Tagesklinik liegt im selben Gebäude wie ein Supermarkt und andere Praxen, sodass von außen nicht erkennbar ist, wer zu Gabie Raven will.


"Wünschen Sie sich dieses Kind jetzt?"

Bei 19 Schwangeren hat Raven seit der Eröffnung Anfang November nach eigenen Angaben in Dortmund einen Abbruch vorgenommen. Das sei weitaus weniger, als nötig wäre, um die Kosten für Personal und Miete zu decken. "Aber die Frauen müssen ihren Weg zu uns ja erst noch finden", vermutet Raven. Sie hat in Dortmund ihre dritte Klinik eröffnet, wo zusätzlich zu ihren sieben Kollegen und Kolleginnen in den Niederlanden drei Ärzte und Ärztinnen und sie die Eingriffe vornehmen. Das könnte den Eindruck erwecken, mit Schwangerschaftsabbrüchen ließe sich viel Geld verdienen. Raven widerspricht: Mit Abbrüchen werde man eher arm als reich. Sie seien nicht gerade ein lukratives Geschäftsmodell.


Was sind sie für Raven dann? Ein normaler Eingriff, ein politischer Akt? "Das ist eine schwierige Frage", sagt die Ärztin und überlegt kurz. "An sich ist es kein politischer Akt. Ich will kein politisches Statement über Frauenkörper machen. Es ist ein normaler Eingriff." Manchmal werde sie gefragt, ob sie Abbrüche durchführe, weil sie Kinder hasse, erzählt Raven. "Natürlich nicht", sagt die dreifache Mutter. "Wir müssen für die Frauen da sein." Zu ihr kommen die Frauen nach der verpflichtenden Beratung. Dann zähle nur eine Frage: Wünsche ich mir dieses Kind jetzt? "Wenn die Antwort Nein ist und die Frau ist sich in ihrer Entscheidung sicher, dann mache ich den Abbruch."

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