Sophia Boddenberg

Freie Journalistin, Santiago de Chile

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Artikel

Chile: Unaufhaltsam in den Umbruch?

Wenn die Chilen*innen am 21. November einen neuen Präsidenten wählen, wird der vorläufige Sieger vermutlich Gabriel Boric heißen. Der ehemalige Studierendenaktivist und Abgeordnete für die linke Koalition Frente Amplio nimmt in aktuellen Umfragen mit 22 Prozent den ersten Platz ein, gefolgt von dem rechtsextremen Kandidaten José Antonio Kast mit 15 Prozent. Sebastián Sichel, der Kandidat der unternehmernahen Rechten, der für eine Fortführung des politischen Kurses der amtierenden Regierung von Sebastián Piñera steht, ist nach einigen Skandalen rund um seine Person auf die dritte Stelle abgerutscht, gefolgt von Yasna Provoste von der christdemokratischen Partei.

Zwar verkörpert der 35jährige Boric durchaus einen politischen Kurswechsel gegenüber dem rechtskonservativen Piñera. Seine Wahl würde den verfassunggebenden Prozess begünstigen, der sich derzeit in Chile vollzieht und der die noch aus der Zeit der Pinochet-Diktatur stammende neoliberale Verfassung ablösen soll. Doch ist Boric kein Kandidat, der die tiefe Vertrauenskrise der chilenischen Bevölkerung in die politischen Parteien und Institutionen überwinden kann. Vielen Linken ist er zu gemäßigt, vielen Rechten zu radikal. Boric will die politische Mitte für sich gewinnen und schlichten in einer tief zerrissenen Gesellschaft.

Ob er die Chance dazu bekommt, wird auch vom Ausgang der für den 19. Dezember angesetzten Stichwahl abhängen. Dabei wird entscheidend sein, auf welche*n der weiteren Kandidat*innen Boric in der zweiten Runde trifft. Aller Voraussicht nach hätte Boric deutlich bessere Chancen, wenn er gegen den rechten und extrem polarisierenden José Antonio Kast anträte. Der 55jährige Rechtsanwalt und Vorsitzende der Republikanischen Partei lehnt Abtreibung ab, befürwortet den umstrittenen Bau eines Grabens zur Abwehr von Einwander*innen im Norden Chiles und macht keinen Hehl aus seiner Bewunderung für den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump wie den rechtsextremen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro. Bereits 2017 hatte sich Kast um die Präsidentschaft beworben. „Wenn Pinochet noch am Leben wäre, würde er für mich stimmen", warb er damals für sich. In einem Duell mit der Mitte-links-Kandidatin Yasna Provoste hätte es der bisherige Favorit Boric hingegen deutlich schwerer, da sich deren Wählerschaft wie die von Boric vor allem aus der sozialdemokratischen Mitte rekrutiert.

Fest steht: Mit einer rechten Regierung wäre es deutlich schwieriger, die neue Verfassung in die Praxis umzusetzen. Zugleich aber ist sicher: Das schmale Land an der Pazifikküste befindet sich inmitten eines politischen und gesellschaftlichen Paradigmenwechsels. Und dieser wird sich nicht von der Präsidentschaftswahl am 21. November aufhalten lassen - ganz gleich, wie diese am Ende ausgeht.

Angestoßen wurde der Wandel durch die Revolte Ende 2019 und Anfang 2020, die sich gegen die neoliberale Politik der vergangenen dreißig Jahre und die daraus resultierende extreme soziale Ungleichheit richtete. „Es sind nicht 30 Pesos, sondern 30 Jahre", lautete einer der Rufe bei den monatelangen Protesten, die sich an einer Erhöhung der Fahrpreise der U-Bahn um 30 Pesos entzündet und sich zu einem landesweiten Aufstand entwickelt hatten.[1] Es ist den monatelangen Protesten zu verdanken, dass jetzt eine demokratisch gewählte Versammlung eine neue Verfassung ausarbeitet. Das aktuell in Chile gültige Grundgesetz stammt noch aus der Pinochet-Diktatur, und in ihm ist das neoliberale Modell verankert, das die soziale Rolle des Staats auf ein Minimum reduziert und die Logik des freien Markts auf alle Lebensbereiche ausgeweitet hat. Die Freiheit der Unternehmen hat einen höheren Stellenwert in der Verfassung als die Grundrechte der Bürger*innen.

Ein Pakt hinter verschlossenen Türen

Es war im Morgengrauen des 15. November 2019 - im ganzen Land brannten Barrikaden -, als eine Gruppe von elf Parlamentsabgeordneten aus dem Regierungslager und der Opposition nach 15stündigen Verhandlungen den „Vertrag für den Frieden und die neue Verfassung" unterschrieben. Darin legten sie fest, dass die chilenische Bevölkerung in einem Referendum darüber abstimmen sollte, ob sie eine neue Verfassung wolle und welches Organ diese ausarbeiten solle. Die Abgeordneten rechter Parteien verlangten damals, dass der Verfassungskonvent sich zu einem Teil aus Parlamentsabgeordneten zusammensetzen sollte und nicht allein aus gewählten Bürger*innen. Doch im Referendum vom 25. Oktober 2020 stimmten knapp 80 Prozent nicht nur für eine neue Verfassung, sondern auch für eine Versammlung, die sich zu 100 Prozent aus extra zu diesem Zweck gewählten Bürger*innen zusammensetzt. Es ist dieser Vertrag vom 15. November, der dem Umfragen zufolge beliebtesten Präsidentschaftskandidaten bis heute im Nacken sitzt: Gabriel Boric unterschrieb den Vertrag damals im Alleingang, ohne die Unterstützung seiner Partei und ohne die Protestbewegung in die Verhandlungen miteinzubeziehen. Bis heute kritisieren Demonstrant*innen und linke Aktivist*innen Boric dafür, dass er sich hinter verschlossenen Türen ausgerechnet mit jenen rechten Politiker*innen an einen Tisch gesetzt hat, die für die brutale Polizeigewalt auf den Straßen verantwortlich waren. Der Vertrag legte keine Maßnahmen fest, um die gravierenden Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Akteure während der Proteste rechtlich zu verfolgen oder die Gefangenen zu befreien, die damals verhaftet wurden und die mitunter bis heute in Untersuchungshaft sitzen. Der von Boric mitunterzeichnete Vertrag sicherte außerdem den Fortbestand der Regierung von Sebastián Piñera, der auf diese Weise der Forderung der Demonstrant*innen nach seiner Absetzung den Wind aus den Segeln nahm. Bis heute regiert Piñera mit weniger als 15 Prozent Unterstützung und ist aktuell zudem in einen durch die Pandora-Papers aufgedeckten Korruptionsskandal verwickelt.[2]

Dennoch setzte sich Boric bei der Vorwahl für das Präsidentenamt der linken Koalition Apruebo Dignidad, die sich aus der Frente Amplio und der Kommunistischen Partei zusammensetzt, überraschend mit rund 60 Prozent der Stimmen gegen den Kandidaten der Kommunistischen Partei, Daniel Jadue, durch. Jadue hatte den Vertrag vom 15. November nicht unterschrieben und sein Regierungsprogramm entsprach weitaus stärker den Forderungen der Protestbewegung.

Und so ist es derzeit vor allem die verfassunggebende Versammlung, die die Abkehr vom neoliberalen Kurs vorantreibt. Dort sitzen die Vertreter*innen der Protestbewegung, der sozialen Organisationen, der feministischen und der Umweltbewegung sowie der indigenen Völker. Sie sind es, die sich für soziale Grundrechte, für den Schutz der Natur, für die Anerkennung der Rechte der Indigenen und für ein anderes Wirtschaftsmodell einsetzen. Mehr als die Hälfte der 155 Mitglieder gehören keiner politischen Partei an. Zugleich ist es die erste verfassunggebende Versammlung der Welt, die sich zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen zusammensetzt. 17 Sitze werden zudem von Mitgliedern der zehn indigenen Völker Chiles besetzt.

Mit Bürgerbeteiligung gegen den Neoliberalismus

Diese Zusammensetzung lässt erwarten, dass die neue Verfassung die öffentlichen Institutionen und die Rolle des Staats stärken werden. In Chile sind die Rentenversicherung, das Bildungs- und Gesundheitswesen sowie die natürlichen Güter und das Wasser während der Pinochet-Diktatur zu großen Teilen privatisiert worden. Zugleich sind die Lebenshaltungskosten hoch und die Löhne niedrig, weshalb sich viele Menschen verschulden müssen, um ihre Existenz zu sichern. Die Corona-Pandemie hat diese Situation noch verschärft.[3] Umfragen zufolge verfügen derzeit mehr als ein Drittel der Befragten nicht über genügend Einnahmen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

„Una vida digna", ein würdevolles Leben, war daher eine der Hauptforderungen der Revolte. Besonders wichtig wird deshalb auch die politische Teilhabe der Bevölkerung während des verfassunggebenden Prozesses sein. Anfang Oktober verabschiedete der Verfassungskonvent sein internes Regelwerk. Dazu gehören Vorgaben zur Bürger*innenbeteiligung. Diese können beispielsweise Vorschläge einbringen, wenn sie mindestens 15 000 Unterschriften aus vier verschiedenen Regionen sammeln. Auch Nachbarschaftsversammlungen dürfen Vorschläge einreichen.

Seit dem 18. Oktober tagen in der verfassunggebenden Versammlung sechs thematische Kommissionen, darunter eine zum politischen System, Regierung, legislativer Macht und Wahlsystem. Diese wird unter anderem diskutieren, ob Chile sein präsidentielles Regierungssystem beibehalten oder ein parlamentarisches System einführen wird. Da sich damit wahrscheinlich die Zuständigkeiten des Präsidentenamts verändern werden, könnte nach der Verabschiedung der neuen Verfassung eine Neuwahl angesetzt werden.

Eine weitere Kommission widmet sich den Grundrechten, in der das Bildungs- und Gesundheitswesen sowie das Rentensystem diskutiert werden, sowie eine zu Umwelt, Rechten der Natur, Gemeingütern und dem Wirtschaftsmodell. Die Vorschläge aus den einzelnen Kommissionen oder der Bürger*inneninitiativen werden anschließend dem Plenum vorgestellt, wo sie von einer Zweidrittelmehrheit befürwortet werden müssen. Sollte eine solche Mehrheit nicht zustande kommen, kann über das debattierte Thema in einem Volksentscheid abgestimmt werden, sofern zuvor in einer zweiten Abstimmung eine Mehrheit von mindestens 60 Prozent erzielt wurde.

Die rechten und unternehmernahen Versammlungsmitglieder hatten gegen die verbindlichen Mechanismen zur Bürgerbeteiligung und gegen die Möglichkeit eines Volksentscheids gestimmt. Sie hatten gehofft, ein Drittel der Sitze in der verfassunggebenden Versammlung erhalten und so tiefgreifende Veränderungen blockieren zu können. Aber die rechte Koalition „Vamos por Chile" besetzt nur 37 der 155 Plätze, und damit gerade einmal knapp ein Viertel der Sitze.

Freihandel versus Demokratie

Widerstand gegen Veränderungen des Wirtschaftsmodells und der Rolle des Staats ist aber nicht nur von der chilenischen Wirtschaftselite zu erwarten. Denn neben ihnen sind auch transnationale Unternehmen und Investoren Nutznießer des neoliberalen Modells. Allein im ersten Trimester des Jahres 2021 wurden 100 neue Bergbauprojekte mit Investitionen von insgesamt mehr als 25 Mrd. US-Dollar genehmigt. Das transpazifische Freihandelsabkommen TPP11[4] liegt im Senat zur Abstimmung bereit.

Auch die Europäische Union verhandelt derzeit die Neuauflage ihres Freihandelsabkommens mit Chile. Ende September besuchte eine Gruppe von EU-Parlamentsabgeordneten das Land, um die Verhandlungen zu beschleunigen. Europäische Investoren verfügen schon heute über großen Einfluss: Ein Drittel der Direktinvestitionen im Land kommt aus der EU. Sie fließen in den Energiesektor, in den Bergbau, die Telekommunikation und Infrastruktur, aber auch in private Rentenfonds sowie den Gesundheits- und Bildungsbereich.

Um Konflikte zwischen Investoren und Staaten zu lösen, will die Europäische Kommission einen Investitionsgerichtshof einführen. Diese Gerichtshöfe stehen stark in der Kritik, da transnationale Konzerne mit ihrer Hilfe Staaten auf Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe verklagen können, sobald ihre Gewinne durch politische Entscheidungen beeinträchtigt werden - etwa wenn Gesetze den Arbeitnehmer*innen- oder Umweltschutz stärken oder natürliche Ressourcen verstaatlicht werden.[5] Wird das neue Freihandelsabkommen mit der EU ratifiziert und in Chile zugleich eine neue Verfassung verabschiedet, die beispielsweise den Abbau von Rohstoffen einschränkt oder private Unternehmen im Telekommunikations- und Energiesektor oder die privaten Rentenfonds verstaatlicht, könnten europäische Investoren den chilenischen Staat verklagen - oder zumindest damit drohen.

Zunächst aber muss das Abkommen von den Parlamenten der EU-Mitgliedstaaten und vom chilenischen Parlament ratifiziert werden. Und auch dort könnten sich die Machtverhältnisse noch verändern. Denn am 21. November stehen auch die Mitglieder des Senats und der Abgeordnetenkammer zur Wahl.

Mehrere Vertreter*innen der Protestbewegung, Indigene und soziale Aktivist*innen treten dabei als Kandidat*innen an. Unter ihnen findet sich auch die prominente Aktivistin Fabiola Campillai. Sie wurde 2019 von einer Tränengasgranate der Polizei im Gesicht getroffen, verlor anschließend ihr Augenlicht sowie ihren Geschmacks- und Geruchssinn und setzt sich für die Anliegen der Protestbewegung sowie für die Einhaltung der Menschenrechte ein. Auch eine Gruppe von Aktivist*innen der Mapuche-Indigenen hat sich unter dem Namen „Wallmapu Despertó" zusammengeschlossen und Kandidat*innen für die Parlamentswahl aufgestellt.

Es ist somit nicht die Präsidentschaftswahl, die einen politischen Kurswechsel in Chile einläuten wird - der Kurswechsel ist bereits in vollem Gange. Offen ist aber, ob die neue Regierung den basisdemokratischen Prozess unterstützen oder ob sie ausgerechnet in Zeiten des Umbruchs den Graben zwischen der Bevölkerung und den politischen Institutionen noch weiter vertiefen wird.

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