Sophia Boddenberg

Freie Journalistin, Santiago de Chile

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Artikel

Das große Erwachen

In Chile arbeitet eine demokratisch gewählte Versammlung eine neue Verfassung aus. Ob das funktioniert, ist ungewiss. Ein Blick in ein Land am Scheideweg

Millionen von Menschen protestierten Ende 2019 und Anfang 2020 in den Straßen Chiles. Die Stimmung war eine Mischung aus Wut über die soziale Ungleichheit und Euphorie über die neue politische Energie im Land. „Asamblea Constituyente", „verfassungsgebende Versammlung", war auf den Schildern der Demonstrierenden zu lesen. Auf den Plazas trafen sich die Menschen in nachbarschaftlichen Versammlungen, um sich auszutauschen und basisdemokratisch die Zukunft des Landes zu bestimmen. Das wichtigste Thema: Eine neue Verfassung soll die alte, noch aus der Diktatur stammende Verfassung ersetzen. „So viele Leute auf den Straßen zu sehen, macht mich stolz", sagte die 38-jährige Jessica Cayupi, die an den Protesten teilnahm. „Das Bewusstsein der Menschen in Chile hat sich verändert. Sie wollen sich nicht mehr passiv einem System unterordnen, das eine so starke Ungleichheit fördert." Im Mai 2021 sind die Straßen und Plazas leer. Das gesamte Land befindet sich im strikten Corona-Lockdown, aber die soziale Bewegung ist weiter aktiv. Die Pandemie hat wie ein Brennglas auf die sozialen und politischen Probleme im Land gewirkt, ein grundlegender Wandel wird von Tag zu Tag dringlicher. Viele Menschen haben ihre Arbeit verloren, die Parks füllen sich mit Zelten von Obdachlosen und die ärmsten Chileninnen und Chilenen stecken sich am häufigsten mit Covid-19 an. Ihre Krankenhausrechnungen können sie oft nicht bezahlen.

„Diktator Pinochet ernannte diese Wirtschaftswissenschaftler Ende der 1970er-Jahre zu Ministern. Auf demselben neoliberalen Modell basiert auch die Verfassung aus dem Jahr 1980, die während der Diktatur verabschiedet wurde"

Im Oktober 2020 stimmten in einem Referendum knapp achtzig Prozent der Bevölkerung für eine neue Verfassung. Im Mai 2021 wurden die 155 Mitglieder des sogenannten Verfassungskonvents gewählt, die jetzt ein Jahr lang Zeit haben, um das neue Grundgesetz auszuarbeiten. Doch der Prozess geht über den Verfassungskonvent hinaus. „Die Revolte richtet sich gegen die neoliberale Politik der letzten dreißig Jahre und gegen das Erbe der Diktatur", sagt die chilenische Philosophin Alejandra Castillo. „Die institutionelle Politik war bisher elitär und vertrat die Interessen der Unternehmen. Die Revolte unterbricht diese Art der Politik." „Chile despertó", Chile sei aufgewacht aus seinem neoliberalen Albtraum, sagen viele. Den Staat auf ein Minimum zu reduzieren und möglichst alle Lebensbereiche den Regeln des Marktes unterstellen - das ist eine der Lehren von Milton Friedman, die eine Gruppe chilenischer Wirtschaftswissenschaftler an der University of Chicago erlernten. Diktator Pinochet ernannte diese Wirtschaftswissenschaftler Ende der 1970er-Jahre zu Ministern. Auf demselben neoliberalen Modell basiert auch die Verfassung aus dem Jahr 1980, die während der Diktatur verabschiedet wurde. Sie räumt privaten Unternehmen mehr Rechte ein als den Bürgerinnen und Bürgern und verhindert strukturelle Reformen. 1990 dankte Pinochet zwar ab, aber sein Erbe wirkt bis heute nach. Fast alle Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge sind privatisiert und die soziale Ungleichheit ist ins Unerträgliche gewachsen. Eine staatliche Rentenversicherung, ein öffentliches Bildungs- und Gesundheitssystem, eine öffentliche Trinkwasserversorgung, der Schutz von Menschenrechten, indigenen Völkern und der Natur, mehr demokratische Teilhabe - das sind einige der Themen, die soziale Organisationen und Nachbarschaftsversammlungen in der neuen Verfassung verankern wollen. „Wir wollen das vorherrschende Paradigma in Chile verändern: das neoliberale, kapitalistische, individualistische und patriarchale Paradigma", sagt Jessica Cayupi. Sie ist Mitglied des Netzwerks „Red de Mujeres Mapuche", in dem sich Mapuche-Frauen organisieren, und trat als Kandidatin für den 9. Wahldistrikt in der Hauptstadt Santiago an. Sie setzt sich dafür ein, dass Chile sich als plurinationaler Staat konstituiert, der die Selbstbestimmung der indigenen Völker garantiert.

„Präsident Piñera hatte die Proteste von Anfang an mit Gewalt bekämpft: Zum ersten Mal seit dem Ende der Pinochet-Diktatur setzte er das Militär gegen die Bevölkerung ein"

Auch Luis Mesina trat gemeinsam mit einer Liste von sozialen Bewegungen und Nachbarschaftsversammlungen zur Wahl in Santiago an. Er ist Mitglied der Bewegung „No Más AFP", die sich seit mehr als fünf Jahren für eine staatliche Rentenversicherung und gegen die privaten Rentenfonds einsetzt. „Das aktuelle Rentenniveau ist miserabel und bringt die Bevölkerung in eine so unwürdige Lage, dass sie bis ins hohe Alter arbeiten muss. Mehr als 75 Prozent der aktuellen Altersbezüge sind niedriger als der Mindestlohn", sagt Mesina. Der Mindestlohn in Chile liegt bei etwa 370 Euro im Monat. Zudem unterscheiden sich die Renten für Frauen und Männer stark: Die Durchschnittsrente von Männern lag 2020 bei etwa 400 Euro, die für Frauen bei circa 280 Euro im Monat. Gezahlt werden die Pensionen mithilfe der Administradoras de Fondos de Pensiones (AFP) - privaten Rentenfonds, die im Jahr 1981 von José Piñera, dem ehemaligen Arbeitsminister unter Pinochet und dem Bruder des amtierenden Präsidenten Sebastián Piñera, aufgesetzt wurden. Alle Beschäftigten müssen seitdem zehn Prozent ihres Lohnes in einen privaten Fond einzahlen. Die Arbeitgeber zahlen nichts - und die AFP investieren und spekulieren mit dem Geld. Die Bewegung „No Más AFP" setzt sich deshalb dafür ein, dass ein solidarisches Verteilungsmodell als Rentensystem in der Verfassung verankert wird. Doch das ist bei Weitem nicht das einzige Hindernis auf dem Weg zur neuen Verfassung. Das „Friedensabkommen für eine neue Verfassung", das am 15. November 2019 von einer Gruppe aus Regierungs- und Oppositionspolitikern geschlossen wurde, um den institutionellen Prozess für eine neue Verfassung auf den Weg zu bringen, rettete Präsident Piñera davor, aus dem Amt gefegt zu werden. Er hatte die Proteste von Anfang an mit Gewalt bekämpft: Zum ersten Mal seit dem Ende der Pinochet-Diktatur setzte er das Militär gegen die Bevölkerung ein und erklärte in einer Fernsehansprache, er befinde sich „im Krieg gegen einen mächtigen Feind". Diese Kriegserklärung nahmen Militär und Carabineros, die militarisierte Polizei Chiles, zum Anlass, Demonstrierende zu verprügeln, zu foltern und teilweise sogar zu ermorden. Menschenrechtsorganisationen haben Piñera vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Teil der Anklage ist auch das Versäumnis der chilenischen Justiz, die Vergehen angemessen zu verfolgen, denn: Verurteilt wurde bisher fast niemand. Mittlerweile haben mehr als einhundert Kandidierende für den Verfassungskonvent, darunter Jessica Cayupi und Luis Mesina, eine Petition unterschrieben, die den Präsidenten zum Rücktritt zwingen soll.

„Die rechten Parteien erhielten weniger als ein Drittel der Stimmen. Sie dürften angesichts der notwendigen Zweidrittelmehrheit für Verfassungsänderungen also wohl kaum in der Lage sein, tiefgreifende Veränderungen zu blockieren"

Mitunter sind es auch Verwaltungshürden, die dem Erfolg des Verfassungskonvents im Weg stehen - so etwa das Wahlsystem: In 28 Wahldistrikten wurden proportional zur Bevölkerungsanzahl Volksvertretende gewählt. Um die Sitze zu verteilen, wurde das D'Hondt-Verfahren verwendet, indem der Wahlerfolg einzelner Kandidierender von der Anzahl der Stimmen der jeweiligen Wahlliste insgesamt abhängt. Rechte Parteien hatten sich deshalb zu einer einzigen Liste zusammengeschlossen. Parteiunabhängige aus dem linken Spektrum und Mitglieder sozialer Bewegungen traten hingegen auf über siebzig verschiedenen Listen an. Trotz der schwierigen Ausgangsbedingungen wurden nun 88 Parteiunabhängige in den Verfassungskonvent gewählt. Nur fünfzig der 155 Mitglieder gehören einer politischen Partei an. 17 Sitze wurden für die indigenen Völker reserviert - und die rechten Parteien erhielten weniger als ein Drittel der Stimmen. Sie dürften angesichts der notwendigen Zweidrittelmehrheit für Verfassungsänderungen also wohl kaum in der Lage sein, tiefgreifende Veränderungen zu blockieren. Jessica Cayupi und Luis Mesina schafften es selbst zwar nicht in den Verfassungskonvent, dafür aber zahlreiche Repräsentierende sozialer Bewegungen und Nachbarschaftsversammlungen, die von Basisorganisationen unterstützt werden. Dazu gehören auch „No Más AFP", feministische Organisationen, Umweltbewegungen und Vertreter indigener Völker. „Wir nehmen trotz aller Hürden teil, weil wir wollen, dass unsere Stimmen in der ganzen Welt gehört werden", sagt Jessica Cayupi. Sie und mehrere gewählte Vertreter sozialer Bewegungen setzen sich dafür ein, dass der Verfassungskonvent mehr Bürgerbeteiligung garantiert. „Diejenigen, die gewählt werden, sind nur Sprachrohr des Volkes. Am Ende darf die Verfassung nicht nur von den 155 Mitgliedern des Konvents geschrieben werden. Die Bevölkerung muss aktiv eingebunden werden".

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