Sophia Boddenberg

Freie Journalistin, Santiago de Chile

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Artikel

Präsidentschaftswahl in Chile: Wie viel echter Cambio ist drin?

Was kann Chiles künftiger Präsident Gabriel Boric umsetzen? Das hängt von Mehrheiten im Parlament und der neuen Verfassung ab.

SANTIAGO DE CHILE taz | „Wenn Chile die Wiege des Neoliberalismus war, dann wird es auch sein Grab sein", sagte Gabriel Boric im Juli dieses Jahres, als er sich bei der internen Wahl seiner Koalition Apruebo Dignidad als Präsidentschaftskandidat durchsetzte. In den letzten Monaten musste er sich immer mehr dem politischen Zentrum annähern, um die Wahl zu gewinnen. Wird er wirklich den Neoliberalismus begraben können?

Der Grundstein des während der Pinochet-Diktatur unter brutaler Gewalt eingeführten neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells, ist die Verfassung aus dem Jahr 1980. Sie reduziert die soziale Rolle des Staats auf ein Minimum und räumt privaten Unternehmen mehr Rechte ein als den Bürger*innen.

Auch die Ex-Präsidentin Michelle Bachelet kündigte 2014 tiefgreifende Veränderungen, mehr soziale Gerechtigkeit und eine Reform der Verfassung an. Aber sie scheiterte am Widerstand im Parlament, weil die Verfassung für strukturelle Veränderungen eine Zweidrittelmehrheit erfordert.

Was bei der Regierung von Boric anders sein wird: Zum ersten Mal in der Geschichte Chiles arbeitet eine demokratisch gewählte Versammlung mit Geschlechterparität und Beteiligung der Indigenen eine neue Verfassung aus. Im Verfassungskonvent gibt es eine Mehrheit von linken und parteiunabhängigen Kräften aus sozialen Bewegungen, die mit großer Wahrscheinlichkeit eine Verfassung ­schreiben werden, die sich von der neoliberalen Ideologie abhebt.

Die Verteidiger des Neoliberalismus

Die neue Verfassung muss Mitte 2022 in einem Referendum von der Bevölkerung bestätigt werden. Boric wird im März das Präsidentenamt übernehmen. Tiefgreifende strukturelle Veränderungen wie die Reform des privatisierten Rentensystems, des Bildungs- und des Gesundheitssystems, die Boric durchführen will, hängen von der neuen Verfassung ab.

Diese wird seinem Regierungsprogramm mehr Legitimität geben und mehr Handlungsspielraum. Denn seine Koalition Apruebo Dignidad, die aus dem linken Bündnis Frente Amplio und der Kommunistischen Partei besteht, wird nur knapp 21 Prozent der Sitze im neuen Kongress einnehmen. Die Parteien der ehemaligen Concertación, der Mitte-links-Koalition, die Chile seit dem Ende der Diktatur fast ununterbrochen regiert hat, wird etwa 17 Prozent der Kongressabgeordneten stellen.

Gemeinsam mit der Humanistischen Partei und der Ökologischen Grünen Partei könnten die progressiven Kräfte knapp eine einfache Mehrheit im Kongress erreichen - vorausgesetzt, dass die Parteien der Concertación Boric unterstützen - aber keine Zweidrittelmehrheit.

Auch im Senat nehmen rechte Abgeordnete die Hälfte der Sitze ein. Boric wird also mit den Rechten und Un­ter­neh­me­r*in­nen verhandeln müssen, um sein Programm umzusetzen - keine einfache Aufgabe, denn sie verteidigen den Neoliberalismus.

Gesten der Wiedergutmachung

Aber Boric hat einen Vorteil: Die Mehrheit der 345 Stadtverwaltungen sind von linken Bür­ger­meis­te­r*in­nen besetzt sowie auch der Großteil der 16 Regionalregierungen. Er kann also in den ersten Monaten seiner Amtszeit Veränderungen auf lokaler und regionaler Ebene anstoßen. Die Budgets der Stadtverwaltungen sind momentan extrem ungleich verteilt. So ist zum Beispiel das Budget pro Ein­woh­ne­r*in des wohlhabenden Stadtviertels Vitacura in Santiago achtmal größer als das im Armen- und Ar­bei­te­r*in­nen­vier­tel Puente Alto.

Diese Budgets beeinflussen direkt die Lebensqualität der Menschen. Die öffentliche Schulbildung wird seit der Diktatur von den Stadtverwaltungen finanziert, was dazu geführt hat, dass öffentliche Schulen in den ärmeren Vierteln teilweise keine Fensterscheiben und keine Materialien haben. Auch die Grünflächen sowie kulturelle Angebote hängen vom Budget der Stadtverwaltungen ab.

Wenn Boric auf lokaler Ebene eine gerechtere Verteilung der öffentlichen Gelder umsetzt, könnten diese Veränderungen relativ schnell spürbar sein. Außerdem könnte er Gesten der Wiedergutmachung gegenüber den Opfern der Menschenrechtsverletzungen bei der sozialen Revolte erbringen, die die Regierung von Sebastián Piñera komplett im Stich gelassen hat.

Viele von Polizeikräften Verletzte können die hohen Krankenhausrechnungen nicht bezahlen und sind psychisch stark belastet. Erst vor wenigen Wochen beging ein 26-Jähriger Sui­zid, der durch einen Schuss der Polizei bei den Protesten sein Augenlicht verloren hatte und unter einer Depression litt.

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