Im Wartezimmer der Augenabteilung des Hospital Salvador in Hauptstadt Santiago sind alle Stühle besetzt. Auch Fabián Zuñiga wartet in dem Raum, zusammen mit seinem Vater. Zuñiga trägt eine schwarze Kappe und eine Sonnenbrille, sie verdeckt nur ein Auge, das andere hat er im November verloren. Ein Polizist hatte in das Auge geschossen, als Zuñiga an einem friedlichen Protest teilnahm.
"Der Polizist war etwa 15 Meter von mir entfernt. Ich habe gesehen, wie er auf mich gezielt und dann abgedrückt hat", erinnert sich der 25-Jährige. Anschließend wurde er von Helfern des Roten Kreuzes verarztet und in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht, wo er operiert wurde. Einen Tag später kam er zur Kontrolle in die Augenabteilung des Hospital Salvador, wo die Ärztin feststellte, dass die Kugel noch immer hinter seinem Oberkieferknochen steckte. Nun, drei Wochen später, soll sie entfernt werden. "Für die ganze Familie waren die letzten Wochen ein Alptraum", sagt Zuñigas Vater.
Fabian Zuñiga ist einer von 352 Menschen, die seit dem Beginn der Proteste in Chile am 18. Oktober von Polizisten in die Augen geschossen wurden. 242 von ihnen wurden im Hospital Salvador in der Hauptstadt behandelt. Dort arbeitet die Augenärztin Carmen Torres seit 14 Jahren. Normalerweise operiert sie einmal in der Woche, aber seit dem Beginn der Proteste hat sie manchmal 15 bis 20 Operationen an einem Tag. "Als Augenärztin bin ich daran gewöhnt, Augäpfel zu entfernen. Aber 15 Augäpfel an einem Tag ist ziemlich heftig", sagt Torres. Der Großteil der Patienten seien junge Menschen oder Studierende.
Mehr als 60 Kugeln hat die Augenärztin seit dem Beginn des Aufstands entfernt. Eigentlich darf die bei den Protesten nur Gummigeschosse verwenden, aber Torres und ihre Kollegen fanden auch Kugeln aus Metall. Sie gaben deshalb eine Materialuntersuchung bei der Universidad de Chile in Auftrag. Diese stellte fest, dass die eingesetzten Gummigeschosse lediglich zu 20 Prozent aus Kautschuk bestehen und zu 80 Prozent aus Verbindungen aus Kieselsäure, Bariumsulfat und Blei. "Der verursachte Schaden durch diese Materialien in einem so empfindlichen Organ wie dem Auge ist enorm", sagt Torres.
Seitdem ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Betrugs gegen die Polizei. Polizeichef Mario Rozas sah sich am 19. November gezwungen, den Einsatz der Gummigeschosse einzuschränken. Sie dürfen jetzt nur noch in Extremsituationen und zur Selbstverteidigung der Polizisten eingesetzt werden, theoretisch, denn viele Polizisten halten sich nicht an diese Beschränkung. Im Gegenteil: Die Zahl der Augenverletzungen steigt weiter an. Der Großteil wird durch Gummigeschosse verursacht, aber auch durch Tränengasgranaten und Wasserwerfer der Polizei.
"Überall um mich herum war Tränengas"Auch der 17-jährige Edgardo Valdés wurde von einer Tränengasgranate ins Auge getroffen, als er Ende Oktober gemeinsam mit Schülern und Studierenden vor dem Regierungsgebäude protestierte. "Ich habe mein Auge mit der Hand bedeckt und als ich sie herunternahm, sah ich Bluttropfen auf meiner Hand. Überall um mich herum war Tränengas", erinnert er sich. Es waren die Schüler, die den Aufstand in Chile am 18. Oktober auslösten, als sie gegen die Erhöhung der U-Bahn-Preise protestierten. Mittlerweile geht es aber um viel mehr: Die Proteste richten sich gegen das neoliberale Wirtschaftssystem und die soziale Ungleichheit im Land. Die kennt Valdés selbst: "Wo ich wohne, ist es normal, Rentner zu sehen, die Müll auf der Straße sammeln, um zu überleben. In der öffentlichen Schule haben wir keine Fenster und im Winter regnet es rein", sagt er. Es ist noch unklar, ob er wieder auf beiden Augen sehen wird. Er geht trotzdem weiter zu den Protesten. "Wir müssen weiterkämpfen. Ich will, dass keiner mehr das erleben muss, was ich erlebt habe."
Die ausgeschossenen Augen sind zu einem Symbol der Protestbewegung geworden. Bei den Protesten, die in Santiago täglich stattfinden, zeigen die Schilder der Demonstranten Fotos der angeschossene Protestierenden, mit Augen, aus denen blutige Tränen fließen. "Kein Auge weniger" oder "Sie wollten uns blind machen, aber jetzt sehen wir mehr" steht auf diesen Plakaten.