Sophia Boddenberg

Freie Journalistin, Santiago de Chile

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Wenn Machos zu Mördern werden: Chiles Feministinnen empören sich über Frauenmorde

„Wenn Jesus eine Frau gewesen wäre, hätten sie ihn erst vergewaltigt und dann gekreuzigt“, steht auf dem Schild einer Demonstrantin. Fotos: Sophia Boddenberg

Wenige Tage nach den Protesten gegen Frauenmorde sind in Argentinien erneut drei Frauen getötet worden. In Lateinamerika werden jedes Jahr hunderte Frauen ermordet, weil sie Frauen sind. Die chilenische Von Sophia Boddenberg, Santiago de Chile Anwältin und Aktivistin Lorena Astudillo berät Frauen, die Gewalt erleben und untersucht die Femizide, gewaltsame Frauenmorde in einer Kultur, die von Männern dominiert wird.

Juliana war 21 Jahre alt, als ihr Mann sie ermordete, vierteilte und anschließend in einen Fluss warf. Yuri, 28 Jahre alt, Mutter eines 9-jährigen Sohnes, wurde von ihrem Mann Ángelo mit einem Hammer getötet. Beatriz, 50 Jahre alt, wurde von ihrem Exfreund Óscar erwürgt, nachdem er sie verprügelt und eine Flasche auf ihrem Kopf zerbrochen hatte.

Juliana, Yuri und Beatriz sind drei von 35 Frauen, die in diesem Jahr in Chile auf gewaltsame Art und Weise von Männern ermordet wurden. Diese Zahl stammt vom chilenischen Netzwerk gegen Frauengewalt, das im Jahr 2002 die erste Studie über „femicidios" in Chile veröffentlicht hat. Das Netzwerk besteht aus 300 sozialen Organisationen, feministischen Gruppen und NGOs aus ganz Chile, deren Ziel es ist, Gewalt gegen Frauen zu verhindern. In der vergangenen Woche riefen Frauen aus ganz Lateinamerika unter dem Hashtag #NiUnaMenos („Nicht eine weniger") zu einem gemeinsamen Protestmarsch in hunderten Städten auf dem Kontinent auf, um auf das Thema aufmerksam zu machen. In Buenos Aires protestierten am vergangenen Mittwoch geschätzt 200.000 Menschen trotz starken Dauerregens mit Regenschirmen und die Argentinierinnen riefen einen Nationalstreik aller Frauen aus. In Santiago de Chile kamen über 50.000 Frauen, Männer und Kinder zusammen. Einige Frauen protestierten halbnackt, andere beschmierten sich mit Kunstblut, viele hielten Fotos von ermordeten Frauen hoch.

Der Begriff „femicidio" kommt aus dem Englischen von „femicide", einer Anlehnung an das Wort „homicide", die Tötung eines Menschen. Wörtlich bedeutet Femizid also Tötung einer Frau. Am häufigsten kommt der Femizid innerhalb von Paarbeziehungen vor, aber es steckt mehr dahinter.

Hohe Femizidraten in Lateinamerika und der Karibik

Der Femizid ist in allen Gesellschaften existent und betrifft alle Frauen ungeachtet ihres Alters, ethnischen Zugehörigkeit, Religion, sexuellen oder kulturellen Hintergrundes. Auch in Deutschland existieren Femizide, aber bis heute gibt es keine aussagekräftige bundesweite Statistik und auch keine offizielle Definition des Femizids. Einem Bericht der Süddeutschen Zeitung zufolge fielen im Jahr 2011 in Deutschland 313 Frauen Mord und Totschlag zum Opfer. Bei der Hälfte von ihnen hatte die Polizei Ehemann, Freund oder Ex-Partner in dringendem Tatverdacht. Der Begriff und die Definition des Femizids sind weltweit umstritten. 16 Länder Lateinamerikas haben zwischen 2008 und 2015 Gesetze zum Femizid verabschiedet, aber auch hier gibt es verschiedene Definitionen.

„Das chilenische Gesetz ist einfach nur eine Erweiterung des Gesetzes zu häuslicher Gewalt. Es geht um Familien und Paarbeziehungen, nicht um die Machtstrukturen, die dahinter existieren. Dadurch bleiben viele Femizide unsichtbar. Der Femizid ist die extremste Form von Gewalt an Frauen", sagt Lorena Astudillo, Koordinatorin des chilenischen Netzwerks gegen Frauengewalt. Sie ist Anwältin, aber vor allem Feministin und Aktivistin, 42 Jahre alt und beschäftigt sich seit 15 Jahren mit Femiziden. Sie trägt ihre langen schwarzen Haare offen und entspricht mit dem bunten Oberteil und der ausgewaschenen Jeans nicht der typischen Vorstellung einer Anwältin. „Als ich angefangen habe, mit Frauen zu arbeiten, habe ich meine Garderobe gewechselt. So kann ich ein vertrauteres Verhältnis zu den Frauen aufbauen", erzählt sie. Im Netzwerk widmet sie sich der Forschung und dem Aktivismus. Eine der Kampagnen des Netzwerks heißt „Ciudado! El Machismo mata!", was übersetzt in etwa heißt: Achtung! Machismus tötet! Auf dem Protestmarsch in Santiago halten viele Frauen die Poster vom Netzwerk hoch. Am Tag darauf bricht die Internetseite aufgrund der hohen Zugriffszahlen zusammen.

Von den 25 Ländern mit den höchsten Femizidraten weltweit befinden sich 14 in Lateinamerika und der Karibik, wie aus einem alarmierenden Bericht der Frauenorganisation der Vereinten Nationen UNWomen hervorgeht. Eine Vergleichsstudie des Observatoriums für Geschlechtergleichheit der CEPAL (Comisión Económica para América Latina y el Caribe) hat ergeben, dass alleine im Jahr 2014 in Lateinamerika und der Karibik 1903 Frauen aufgrund ihres Geschlechts ermordet wurden. Honduras liegt mit 631 Morden im Jahr 2014 an der Spitze. Hinzu kommt, dass 98 Prozent der Femizide in Lateinamerika ungestraft bleiben, so der UN-Bericht.

In zwei Drittel der Fällen von Gewalt wird keine Anzeige erstattet

Es ist schwierig, Statistiken über Femizide auszuwerten, da verschiedene Institutionen verschiedene Definitionen verwenden. „In Chile haben alle Instanzen verschiedene Zahlen. Die Gerichtsmediziner zählen die Toten, die Staatsanwaltschaft zählt die Straftaten, das Ministerium zählt nur die Fälle, die innerhalb von Partnerschaften vorkommen", sagt Astudillo. Das chilenische Ministerium für Frauen und Geschlechtergleichheit, das 2015 gegründet wurde, hat in diesem Jahr „nur" 25 Frauenmorde registriert, zehn weniger als das chilenische Netzwerk gegen Frauengewalt , das alle Zahlen der verschiedenen Institutionen analysiert und mit Presseberichten abgleicht. Aber auch das Ministerium unterstützt die Kampagnen der feministischen Gruppen. Als der Protestmarsch am Regierungsgebäude La Moneda vorbeimarschiert, erscheint eine Projektion auf dem Gebäude mit dem Hashtag #NiUnaMenos.

Es gibt außerdem eine hohe Zahl versuchter Femizide, die „femicidios frustrados". Das Ministerium für Frauen und Geschlechtergleichheit hat bis jetzt 96 versuchte Femizide im Jahr 2016 registriert. Dazu kommt eine hohe Dunkelziffer von Fällen, die nicht innerhalb von Paarbeziehungen geschehen und von Frauen, die nicht darüber sprechen. 64 Prozent der Frauen, die Gewalt erleben, erstatten keine Anzeige, oft ist Angst der Grund dafür. Die Mutter der 29-jährigen Nabila Rifo, die um ein Haar von ihrem Partner getötet wurde, hatte keine Angst. Sie ging mit dem Fall zum Fernsehen und brachte so die Debatte um Femizide in Chile ins Rollen.

In der Morgendämmerung des 14. Mai hören ihre Nachbarn in der Stadt Coyhaique im Süden Chiles ihre Schreie und rufen die Polizei. Als diese Nabila findet, liegt sie am Boden, unterkühlt, mit zahlreichen Brüchen und Verletzungen. Sie hat Hirnmasse verloren, mehrere Zähne fehlen und jemand hat ihr die Augen ausgekratzt. Später sagt die Staatsanwaltschaft, dass sie innerhalb von zwölf Stunden gestorben wäre, wenn sie niemand gefunden hätte. Die Polizisten finden einen Autoschlüssel neben Nabilas Körper, der sie zu einem Auto führt, das vor dem Haus geparkt ist, in dem Nabila mit ihren vier Kindern und ihrem Partner Mauricio Ortega lebte. Dem Staatsanwalt und den Zeugenaussagen zufolge war Ortega betrunken, als um vier Uhr morgens ein Streit zwischen beiden entbrannte, der damit endete, dass er mit einem Betonblock auf ihren Schädel einschlug und ihr mit dem Autoschlüssel die Augäpfel auskratzte. Drei Tage lang wurde niemand verhaftet, bis Nabilas Mutter in den Fernsehnachrichten Gerechtigkeit für ihre Tochter forderte. Sie hatte Ortega bereits vor einem Jahr angezeigt, als er mit einer Axt auf sie und ihre Tochter losgegangen war. Er blieb jedoch auf freiem Fuß unter der Bedingung, sich einer Therapie zu unterziehen, was aber nie geschah. Während Ortega seine Unschuld beteuert und in Untersuchungshaft sitzt, laufen die Ermittlungen zu dem Fall und Nabila lernt in einer Rehabilitationsklinik, sich damit abzufinden, nie wieder das Tageslicht zu sehen. Der Fall erregte starkes Aufsehen in den Medien und Entsetzen in der chilenischen Gesellschaft.

„Es ging nur noch darum: er oder sie"

„Durch die Medienberichterstattung haben die Femizide überhaupt erst öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. Die Medien haben geholfen, den Begriff Femizid zu etablieren. Die Regierung nimmt das Thema nicht ernst. Es gibt einen Abgeordneten, der seiner Frau die Nase gebrochen hat und jetzt in der Familienkommission sitzt und über Gesetze entscheidet, so sind unsere Politiker!", sagt Astudillo erzürnt. „Früher habe ich an die Institutionen geglaubt, aber meine Sichtweise hat sich mit den Jahren verändert. Viele Frauen wollen gar keine Hilfe von Richtern und Anwälten, sondern einfach nur jemanden, der ihnen hilft und ihnen bestätigt, dass das, was mit ihnen passiert, nicht passieren sollte. So war es auch bei der Frau, die mich am meisten geprägt hat".

Als Astudillo 27 Jahre alt war, arbeitete sie in einem Gemeinschaftszentrum, wo sie einmal in der Woche als Freiwillige Rechtsbeistand leistete. Eines Tages kam eine junge Frau in ihr Büro, die nervös auf und ab lief, sich nicht hinsetzen wollte und ohne viel zu sagen wieder ging. Eine Woche später kam sie wieder, genauso nervös, aber diesmal entschlossener. Sie erzählte, dass ihr Exfreund sie verfolge und verprügele und ihr gedroht habe, sie und die Kinder zu töten. Sie weinte, wischte aber die Tränen schnell weg, denn sie wollte gefestigt wirken. Astudillo riet ihr, Anzeige zu erstatten. Aber die Frau sagte, deswegen sei sie nicht hier. Das habe sie alles schon hinter sich. Sie sei hier, um zu fragen, was sie tun müsse, um ihren Exfreund umzubringen und eine möglichst niedrige Gefängnisstrafe zu bekommen. Wenn sie das nicht tue, müssten ihre Kinder ein Leben lang ohne Mutter leben, so wären es immerhin nur ein paar Jahre.

„Es ging nur noch darum: er oder sie. So weit ist es in unserer Gesellschaft gekommen. Diese Geschichte hat mich an meine Grenzen gebracht. Ich habe immer die Gesetze studiert und geglaubt, der juristische Weg sei die Lösung, aber diese Frau hat mir komplett den Boden unter den Füßen weggezogen und eine andere Realität gezeigt. Wegen ihr habe ich beschlossen, den Rest meines Lebens den Femiziden zu widmen", sagt Astudillo heute, 15 Jahre später. Anschließend hat sie die Frau nie wiedergesehen. Welchen Ratschlag sie ihr letztendlich gegeben hat, will sie nicht verraten.

„Die Frauen normalisieren die Gewalt"

Astudillo vertritt eine sehr weite Definition des Femizids und findet, dass Selbstmorde von verzweifelten Frauen und sehr gewalttätige Vergewaltigungen auch unter dem Begriff Femizid registriert werden sollten, da sie auch Konsequenzen der patriarchalen Machstruktur sind. „Der Femizid hat viele Dimensionen, die oft im Verborgenen bleiben. Manche Frauen sind so verzweifelt, dass sie Selbstmord begehen. Oft wird das aber als Depression deklariert und die Kinder bleiben beim Mann. Versuchte sexuelle Femizide werden häufig als Vergewaltigung registriert", erklärt Astudillo. Sie erzählt die Geschichte von Gabriela aus Rancagua, deren Vergewaltiger ihr große Steine in die Scheide einführten und anschließend auf freiem Fuß blieben, weil sie sie „nur" vergewaltigt hatten.

Am häufigsten kommt der sogenannte intime Femizid vor und auch nur dieser wird von der chilenischen Regierung registriert: Das heißt, dass die Frau eine intime Beziehung zum Täter hat, meistens sind es Ex- oder Ehepartner. „Früher habe ich gedacht, dass die Männer, die so etwas tun, krank und unglücklich sind und dass man sie alle auf eine Insel schicken sollte, damit sie sich da untereinander umbringen. Aber die meisten Frauen sehen ihre Männer nicht als Monster an. Sondern als den Mann, den sie ausgesucht haben, um ihr Leben mit ihm zu verbringen, als den Vater ihrer Kinder. Sie finden ihn gutaussehend und sympathisch und rechnen ihm viele Tugenden an. Der einzige Defekt neben all seinen Tugenden ist für sie, dass er sie misshandelt. Die Frauen normalisieren die Gewalt, denn es ist Teil unserer Kultur zu denken, dass die Frauen minderwertig sind und die Männer das Sagen haben. Und das muss man erst einmal verstehen", erklärt Astudillo.

Die Lösung sieht Astudillo in der Erziehung und in der Bildung. „Den Mädchen geben wir Puppen zum Spielen und reden ihnen ein, sie müssten sich um ein Stück Plastik kümmern. Und die Jungen bekommen Autos und Fahrräder und ihnen wird gratuliert, wenn sie sich den Arm brechen. Von klein auf sind die Mädchen für die Fürsorge da und die Jungen für das Risiko. Bildung und Erziehung sollte uns nicht in Rollen pressen, sondern uns die Freiheit geben, einfach zu sein, wer wir sind", sagt sie. Eine große Verantwortung haben laut ihr Kindergärten und Schulen. Kürzlich hat das Netzwerk ein Buch zu nicht-sexistischer Bildung herausgegeben. Außerdem sollten Frauen sich gegenseitig mehr unterstützen, Komplizinnen sein anstatt Konkurrentinnen, findet Astudillo. „Die Institutionen sind letztendlich nur ein Spiegel der Gesellschaft. Wir als Netzwerk wollen das Bewusstsein der Frauen und der Bürger wecken und einen kulturellen Wandel vorantreiben", sagt sie.

„Ich merke, dass ein Wandel stattfindet. Aber der Machismus und das Patriarchat reproduzieren sich von alleine und erfinden sich immer wieder neu. Früher sagte man, alle Feministinnen seien Lesben, heute nennen sie uns Feminazis. Ich habe sehr viel Vertrauen in die junge Mädchen und Frauen, die mit viel mehr Information aufwachsen und auf dem Weg gehen können, den die Feministinnen vor ihnen gepflastert haben." Die jungen Frauen findet man auf dem Protestmarsch wieder. Mit provokanten Verkleidungen und Schildern mit Sprüchen wie „Weniger Gewalt, mehr Orgasmen" oder „Wenn Jesus eine Frau gewesen wäre, hätten sie ihn erst vergewaltigt und dann gekreuzigt" ziehen sie durch die Straßen von Santiago. Als der Marsch an einer Baustelle vorbeizieht, ruft die gesamte Masse den Bauarbeitern zu: „No más piropos!" (Keine Anmachsprüche mehr!). Sie wollen die Gewaltstrukturen und den Machismus nicht akzeptieren. Sie sind traurig, wütend und voller Tatendrang.

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