Sonja Pham

Redakteurin / Journalistin, München

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Interview

Sabine Magnet: Das Impostor-Phänomen

Es mag ein wenig flachwitzig und albern erscheinen, ausgerechnet einen eloquenten Dialog über kognitive Leistung mit einer Betonung des Autorennamens zu beginnen. Doch weil auch ein Magnet per se bereits ein sensationelles Phänomen der Natur ist, das voll ungeahnter Kraft steckt und allerhand Paradoxitäten involviert, ist das eventuell okay.

Die schlagfertige Autorin Sabine Magnet verfasst i.d.R. journalistische Texte und Kolumnen, aber beizeiten auch Auftragsgedichte als „Poetry to Go“. Sie wohnt gerne in München („weil es hier kein FOMO gibt“), und reist genauso gerne durch urbanes wie bergiges Gefilde; ihr offenes Lachen zeugt von Verve und wenn man so plaudert, könnte es ebensogut sein, man hätte sich bereits in der Unterstufe gegenseitig ins Poesiealbum schwadroniert.

Mit ihrem Buch „Und was, wenn alle merken, dass ich gar nichts kann?“ hat die Magnetin vielen Lesern eine Vokabel für längst bekannte Schaffenszweifel beigebracht: „Vom Impostor-Phänomen betroffene Menschen leben in einem Überschätzungs-/Unterschätzungs-Dilemma. Sie unterschätzen die eigenen Fähigkeiten und überschätzen die Fähigkeiten der anderen.“ 

Im Wechsel mit wissenschaftlich fundierten Passagen, jüngsten Studien und fachmännischen Ratschlägen lässt sie tatsächliche Personen zu Wort kommen, dessen verlautete Selbstzweifel bis dato maximal als neurotisch abgetan worden waren.


Sonja: Sabine, weshalb hast genau du dieses Buch geschrieben?


Sabine: Anfangs war ich total überrascht, dass es einen Namen für dieses Gefühl gibt, und habe unendlich viel recherchiert. Aber als mich der Verlag darum bat, das Buch zu schreiben, schlug ich zunächst viele Autorinnen vor, von denen ich der Annahme war, dass sie das besser könnten als ich. (lacht) Ein Freund, mit dem ich darüber sprach, ob ich mir das Schreiben eines Buchs zutrauen sollte, erinnerte er mich daran, dass ich sowas doch sowieso schon seit zwanzig Jahren täte: Informationen sammeln und sie aufschreiben. Er wies mich darauf hin, dass ich mit meinen Zweifeln doch gerade die Bedeutung des Themas unter Beweis stellte.


Sonja: Beim Lesen schien mir, dass das Impostor-Phänomen mit einer Art von Internetkultur verknüpft ist, die einem suggeriert, dass das eigene Wissen gar nicht so bedeutsam ist. Insbesondere jemand, der professionell das Recherchieren erlernt hat, bekommt schlagartig den Eindruck, das sei gar nicht mehr vergleichbar, mit allen öffentlich zugänglichen Informationen. Hat man mit dieser Omnipräsenz von Allgemeinwissen begonnen, die eigenen, teilweise sehr profunden Kenntnisse radikal zu verniedlichen?


Sabine: Das Impostor-Phänomen ist beileibe kein neues Sujet. Es gibt zum Beispiel Textpassagen von John Steinbeck und Agatha Christie und Maya Angelou, weit vor dem Internet, die dieses Gefühl exakt beschreiben. Aber es ist natürlich schon so, dass die digitalen Medien das Empfinden verstärken. Zum einen herrscht eine allumfassende Vergleichbarkeit: Früher verglich ich mich mit den Mädchen aus Taufkirchen und Oberhaching, durch das Internet kann ich mich heute mit Gleichaltrigen aus Wisconsin und Timbuktu vergleichen. Hinzu kommt, dass das Bild, das ich von einem anderen Menschen via Soziale Medien habe, kein reales ist. Sogar die Leute, die bewusst nichts verschönern und keine Filter einsetzen, können das wirkliche Leben nicht abbilden. Es ist immer nur ein Ausschnitt, ein winziger Moment. Die Internetnutzung hat das Phänomen auch deshalb verschlimmert, weil jeder seine Meinung zu jedem Scheiß abgibt.


Sonja: Positiv betrachtet – ist es durch die Digitalität einfacher, nicht nur Konkurrenten, sondern auch Gleichgesinnte zu finden, die vielleicht ähnlich hadern mit ihrer eigenen Leistung?


Sabine: Ja, total! Daher überwältigt mich die Reaktion auf mein Buch so, weil wir anscheinend immer noch nicht in der Lage sind, über dieses Thema offen zu reden. Wir reden so pseudomäßig übers Versagen und machen Fuck Up-Nights, in denen man sich „Schöner scheitern“-Geschichten erzählt, die am Ende aber dann doch gut ausgegangen sind. Das ist zwar super und zumindest ein Anfang, aber es erzählt dir doch sonst keiner ehrlich, wie es ihm oder ihr wirklich damit ging.


Sonja: Kennst du Simone Giertz, die junge schwedische Erfinderin, die Roboter mit komplett sinnlosen Funktionen baut?


Sabine: Ja, ich habe das Video von ihrem TED-Vortrag gesehen, die ist super!


Sonja: Sie beschreibt, dass sie nach vielen misslungenen Versuchen ihr Konzept kurzerhand umdrehte, indem sie das Scheitern als Ziel definierte. Das ist natürlich eine humorvolle Herangehensweise, sich die Enttäuschung am Ende zu ersparen. Wie empfindest du die Diskrepanz zwischen dem, was wir als tollpatschigen Fail bezeichnen würden, und dem, was uns aus Furcht am Schaffensprozess hindert?


Sabine: Das Ding heißt deshalb Phänomen und nicht Syndrom, weil es eben einer menschlichen Erfahrung entspricht. Mir war es sehr wichtig, nichts zu pathologisieren. Im Prinzip ist es eine ganz normale Empfindung des Menschseins, die wir alle kennen. Ich wäre eher skeptisch, wenn du mir erzählen würdest, dass du nie an deiner Leistung zweifelst. Denn es ist ja vollkommen natürlich, gewisse Sachen nicht zu können und dementsprechend zu bluffen – ob beim neuen Job, beim ersten Kind und auch sonst allem, das man noch nie gemacht hat. Die Zweifel, ob man etwas beherrscht, erzeugen ja auch Produktivität. Problematisch wird es erst dann, wenn sie dich massiv behindern: Wenn du dich innerlich zurückziehst, dein Licht ständig unter den Scheffel stellst und der Welt deine Ideen vorenthältst. Alles andere halte ich für relativ natürlich – und zwar nicht nur bei den 70 Prozent der Menschen, die nach Schätzungen von Studien vom Impostor-Phänomen betroffen sind, sondern bei jedem Einzelnen.


Sonja: Du pflegst in deine wissenschaftlichen Erörterungen immer wieder persönliche Erfahrungsberichte verschiedener Betroffener ein. Nach welchem Prinzip hast du die Personen gesucht? Oder sind Freunde auf dich zugekommen, die sich an dem Projekt beteiligen wollten, weil sie sich identifizieren konnten mit deiner Recherche?


Sabine: Es war in der Tat so, dass mir viele Menschen aus meinem Umfeld dazu einfielen und ich fand es interessant, meine eigenen Eindrücke und die Erkenntnisse aus dem Interview mit den Ergebnissen des Impostor-Tests zu vergleichen, den ich mit den Personen gemacht habe. Die Personen äußerten während der Gespräche immer wieder Zweifel, ob sie überhaupt für das Thema geeignet wären. Mein Eindruck und die Ergebnisse der Tests sagten eindeutig: ja. Ich fand das amüsant und habe beim Schreiben des Buches dieses Gefühl auch bei mir entdeckt: Bin ich überhaupt schwer genug betroffen, dass ich darüber schreiben kann?


Sonja: Fast jede Passage hat mich schlagartig an eine befreundete, passende Person erinnert, die ähnlich schnoddrig-charmant über ihre Unzulänglichkeit spricht. Ist das ein Signum unserer Branche?


Sabine: Natürlich gibt es ein Gefälle, was die Anfälligkeit in den jeweiligen Berufsgruppen betrifft. Ganz besonders empfänglich sind zum Beispiel Künstler und Künstlerinnen. In der Kunst gibt es keine eindeutigen, allgemeingültigen Regeln und man ist permanent der Kritik ausgesetzt. Stell’ dir vor, du wärst Schauspielerin – und es gibt einen gesamten Berufsstand, dessen Aufgabe es ist, deine Arbeit zu kritisieren! Die erste Kritikerin hält deine Arbeit für totalen Scheiß, der nächste Kritiker lobt dich über alle Maßen. Unter solchen Bedingungen gedeihen Impostor-Gefühle natürlich sehr gut.


Sonja: Hast du ein Rezept für den Umgang mit diesem Zwiespalt?


Sabine: Ehrlich sein zu sich selbst und anderen. Und darüber reden. Aber Authentizität ist ein Spannungsfeld. Der Grat zwischen Ehrlichkeit und Professionalität ist sehr schmal. Geht man nun also herum und erzählt der Umwelt stündlich von seinen Gefühlen oder kommt man hauptsächlich innerlich damit klar? Das ist ja auch eine Frage der Höflichkeit. Und natürlich kann man seinen Vorgesetzten nicht ständig mitteilen, welche Ängste man hat… Ich würde mir eine Zwischenlösung wünschen, also ein Umfeld, in dem man ehrlich sein kann und sich seiner Zweifel nicht schämen muss. Zusätzlich zu dem, dass man denkt, man checkt nichts, sind die meisten von uns der Annahme, dass es nur uns so geht.


Sonja: Stellt sich ab einem gewissen Punkt ein gewisser Realitätsbezug ein zu dem, was man gut kann?


Sabine: Mit dem Alter wird es häufig besser, denn man kann sich nicht so lange selbst etwas vormachen. Irgendwann hat man quasi den Beweis für das eigene Können. Ein anderes Problem ist allerdings, dass wir so unglaublich viele Möglichkeiten haben. Es gibt Studien, die belegen, dass mehr Möglichkeiten nicht automatisch mehr Glück und Zufriedenheit bedeuten, sondern eher das Gegenteil. Man vergeudet Zeit damit, sich mit vielen Optionen auseinanderzusetzen – egal ob es sich um Produkte dreht oder die Berufswahl. Vor allem im Alter von Anfang Zwanzig ist das in Sachen Selbstzweifel der Horror! Wenn dir die ganze Zeit suggeriert wird, dass da noch etwas Besseres kommt, und du etwas verpasst – dann fängst du ja nie an!


Sonja: Ich vermute stark, dass man gerade in unserer Branche nicht davor gefeit ist, sich mit allen möglichen Biographien zu vergleichen, die einem in der Recherche begegnen. Man wird kritischer, hinterfragt natürlich auch mehr und erlebt wesentlich mehr Reibung als in anderen Berufsfeldern. Wie bist du im Journalismus gelandet?


Sabine: Ich wusste schon ganz, ganz früh, dass ich beruflich schreiben möchte; mit 13 Jahren habe ich mein erstes Praktikum gemacht. Ich glaube heute, dass ich Journalistin geworden bin, weil es nicht zu weit weg von einem unterbewussten Wunsch war. Nicht im Traum dachte ich daran, tatsächlich Schriftstellerin werden zu können! Das war für Talente wie Christine Nöstlinger und Astrid Lindgren reserviert. (lacht) Der Journalismus hingegen, in dem ich neugierig sein und anderen, aber vor allem mir selbst die Welt erklären kann, schien in Reichweite.


Sonja: Hast du während des Schreibens Dinge verinnerlicht, die du davor noch nicht wusstest?


Sabine: Das Verrückteste war, mich selbst beim Schreibprozess zu beobachten. Je mehr ich mich in die psychologische und gesellschaftliche Thematik hineingearbeitet habe, desto mehr habe ich mich selbst analysiert. Im Psychologiestudium nennt man es das Erstsemestersyndrom, wenn man auf einmal glaubt: „Oh Gott, ich habe ALLES!“ Das stimmt natürlich nicht, aber du bekommst zum ersten Mal eine Sprache für unbenannten Emotionen und dir fallen plötzlich lauter Verhaltensmuster auf. Es gibt eine Szene im Buch, in der ich die unterschiedlichen Personen beschreibe, die während des Schreibens am Buch in meinem Kopf im Wettstreit waren: die Wissenschafts-Sabine, die alles ganz logisch und rational erörtern kann, die Deadline-Sabine, die gegen Ende völlig durchdreht, die Impostor-Sabine, die an ihren eigenen Fähigkeiten zweifelt, und die total erschöpfte Sabine, die einfach nur noch in Ruhe gelassen werden und schlafen will. Es war spannend, meine eigenen Argumentationsketten zu den jeweiligen Zeitpunkten näher zu betrachten.


Sonja: Welche Erkenntnis hat dich an dir am meisten erstaunt?


Sabine: Sehr prägnant war für mich die Erkenntnis, dass man Gefühle selber macht. Dass man darüber Kontrolle hat. Das war für mich eine Erleuchtung! Es gibt dazu immer mehr Studien auf den Gebieten Neurowissenschaft, Psychologie und Soziologie und neue Ansätze, die nicht davon ausgehen, dass es sozusagen einen Satz an Grundgefühlen gibt, die jeder Mensch auf der Welt in gleicher Weise erlebt. Diese Thesen definieren Gefühle als Eigenkreationen: Vereinfacht gesagt sendet der Körper dem Hirn Information über unsere physische Befindlichkeit und diese Informationen laufen durch die Filter unsere Erfahrungen und Konzepte, wo sie eine Bedeutung zugewiesen bekommen. Konzepte sind zum Beispiel Liebe, Schönheit, Coolness, Geld. Wenn man das weiterdenkt, heißt es im Umkehrschluss, dass wir unsere Gefühle ändern können, indem wir diese Konzepte verändern… 


Sonja: Das Impostor-Phänomen betrifft also alte, schädliche Denkmuster, die geändert werden möchten. Wie funktioniert eine gesunde Selbstanalyse?


Sabine: Balance ist wichtig. Permanentes Nachdenken über sich selbst ist ebensowenig fruchtbar wie gar keine Selbstreflektion. Manche Leute hinterfragen niemals etwas und durchwandern ihr Leben völlig reflexgesteuert. Demgegenüber gibt es Persönlichkeiten – zu denen ich mit Sicherheit gehöre – die zu viel Zeit in ihrem Kopf verbringen, und sich manchmal daran erinnern müssen, direkt im Leben anzukommen: Wo bin ich gerade? Wie sieht’s hier aus? Wie riecht es? Was schmecke ich? Außerdem ist es sehr wichtig, Gedanken auch zu kommunizieren. Erstens werden sie einem dann verständlicher, zweitens erkennt man nur so die Paradoxien. Wenn du sie nur in deinem Kopf hast, wirst du nur dieses latente Gefühl der Unzulänglichkeit, des Unwohlseins spüren. Den Brainfuck sieht man viel besser, wenn man ihn ausspricht. 


Sonja: Wie gehst du jetzt damit um, wenn ich dich für das Buch lobe?


Sabine: Ich freue mich schon, ja. Doch. (Lacht) Ich freue mich wirklich sehr darüber.




Sabine Magnet, „Und was, wenn alle merken, dass ich gar nichts kann? Über die Angst, nicht gut genug zu sein“, mvg Verlag