Solveig Michelsen

Reise-, Berge-, Outdoor-Journalistin, Tutzing

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Im Torpor in den Orbit

Der Mensch hat sich aus dem Tierreich schon immer einiges abgeschaut. Selbst wenn es um den Weltraum geht, besinnt man sich gerne auf die Bionik, also das Übertragen von Naturphänomenen auf die Technik. Für eine Reise zum Mars wird ein solcher Griff in die tierische Trickkiste besonders relevant. Denn ein Flug dorthin braucht im Idealfall zwar nur sieben Monate, allerdings fehlt der Platz für ausreichend Proviant. Wie praktisch wäre es da, wenn der Mensch diese Zeit in einem Dämmerzustand einfach verschlafen könnte …


Dass der Gedanke keineswegs abwegig ist, beweist eine Winterschlafstudie, die die LMU München zusammen mit der Europäischen Raumfahrtagentur ESA durchgeführt hat. Untersucht wurde zunächst, ob Ratten in einen Winterschlaf versetzt werden können – obwohl sie natürlicherweise keinen halten. Die Zutaten des Experiments: ein dunkler, kühler Raum, ein „Anfuttern”, gefolgt von einem Fastenzeitraum plus eine Dosis Neurotransmitter. Bei Letzteren handelt es sich um Botenstoffe, die Erregungen im Nervensystem weiterleiten. Der Test war erfolgreich, und die Tiere konnten für ein paar Tage in einen künstlichen Schlaf versetzt werden. Allerdings brauchte es dafür eine recht hohe Konzentration an Neurotransmittern – und deren langfristige Auswirkungen auf den Menschen sind noch nicht bekannt.


Nichtsdestotrotz ist sich Jennifer Ngo-Anh, Forscherin in der Abteilung „Human and Robotic Exploration“ bei der ESA, sicher, dass Menschen bereits Mitte der 2030er-Jahre in einen künstlichen Winterschlaf versetzt werden können. Das hätte für Astronautinnen und Astronauten gleich mehrere Vorteile: Neben der Gewichts- und Volumenersparnis für Lebensmittel, Wasser und Sauerstoff (man rechnet mit ca. fünf Kilogramm pro Person und Tag, d.h. bei einer sechsköpfigen Besatzung allein rund 6,5 Tonnen nur für den Hinflug) entkämen die Raumfahrenden dem Problem der so genannten Mikrogravitation: Aufgrund der Schwerelosigkeit verlieren selbst Astronaut*innen, die an speziell für die Raumfahrt entwickelten Geräten trainieren, bis zu 20% ihrer Muskelmasse – pro Monat! Dazu gesellen sich eine Destabilisierung der Knochen sowie ein reduziertes Blutvolumen. All das könnte durch einen künstlich induzierten Torpor vermieden werden. Ein weiterer überraschender Nebeneffekt: Die kosmische Strahlung, die bei Menschen, die ihr über einen längeren Zeitraum hinweg ausgesetzt sind, die Organe langsam zerstört, greift die entschleunigten Zellen kaum an. 


Die positiven Nachrichten verhallen auch im medizinischen Bereich nicht ungehört. Schon lange ist man auf der Suche nach einer Alternative zur herkömmlichen Narkose sowie einer Lösung für Langzeit-Bettlägerige, die nicht nur schnell abbauen, sondern auch nur langsam wieder regenerieren – wohingegen Tiere nach dem Winterschlaf erstaunlich hohe Fitnesswerte aufweisen. "Wenn man eine Intensivstation verlässt, ist man nach einer langen Zeit dort wie ein Skelett, weil der Stoffwechsel abbaut. Die Möglichkeit, die Pausentaste zu drücken, wäre ein entscheidender Fortschritt", visioniert der ebenfalls an der Studie beteiligte Arzt Alexander Choukèr von der LMU München. Die verlangsamte Zellaktivität böte auch die Möglichkeit, in Ruhe nach einer Lösung, beispielsweise nach geeigneten Antikörpern gegen einen Tumor, zu suchen – ohne sich mit der Zeit ein Wettrennen liefern zu müssen. 


Doch einfach wird es nicht: Erst kürzlich, im April 2023, fand eine weitere Studie an Braunbären heraus, dass diese in ihrer Winterruhe 71 Proteine hoch- und 80 herunterregulieren, um den gewünschten Zustand zu erreichen. Besonders ein Protein leistet dabei einen entscheidenden Anteil: Dem Hitzeschockprotein 47, das Interaktionen zwischen Blutplättchen und Immunzellen reduziert, gelingt es, die Entstehung von Blutgerinnseln zu verhindern. Ließe sich das auf den Menschen übertragen, könnte das venöse Thromboserisiko gegen Null gefahren werden. Allein dafür wäre man der Winterschlafforschung schon sehr verbunden – auch wenn es mit dem Flug zum Mars erstmal nichts wird.


Lesen Sie mehr im Forum 3 / 2023 (Augustinum gGmbH)