1 Abo und 8 Abonnenten
Artikel

Wie Polen zurück zur liberalen Demokratie findet

Drei bis vier Monate. So lang bemisst Krzysztof Izdebski das Zeitfenster, in dem die ersten Weichen gestellt werden können, um Polens Demokratie wieder auf Vordermann zu bringen. Bevor sich die neue Regierung in Warschau in den Mühlen des Alltags verliert. Drei bis vier Monate, um sie mit genug Ideen und Konzepten aus der Zivilgesellschaft für die nächsten Jahre zu versorgen.

Krzysztof Izdebski hat viele davon. Sie alle liegen in der Schublade. Seit der Parlamentswahl am 15. Oktober können sie endlich raus. Haben die Chance, in diesem neuen Polen tatsächlich umgesetzt zu werden. Izdebski ist Jurist und als solcher Teil eines Teams der Batory-Stiftung, gegründet 1988 von George Soros und polnischen Oppositionellen, um damals Polens Weg aus dem Kommunismus in die Demokratie zu begleiten. Zu erleichtern. Hebamme demokratischer Prozesse quasi. Wer hätte gedacht, dass die Stiftung 2023 immer noch voll im Einsatz ist.


Izdebeki und seine Kolleg:innen haben sich nichts Geringeres zum Ziel gesetzt, als all das in Polens Demokratie zu reparieren, was die rechtsnationale Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit" (PiS) in den vergangenen acht Jahren kaputt gemacht hat. Allen voran: den Rechtsstaat. „Ich werde ehrlich sein mit Ihnen", gesteht Izdebski beim Zoom-Gespräch, „keiner hat ein gutes Rezept hier. Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass wir von einer illiberalen Demokratie wieder in eine liberale wechseln."

Ein historischer Moment. Nicht nur für Polen.

Am 15. Oktober haben die Pol:innen bei den Parlamentswahlen bewiesen, dass der Niedergang der liberalen Demokratie durch Rechtspopulist:innen kein Naturgesetz ist. Dass man sie aufhalten kann. Und zwar richtig old school, an der Wahlurne.

Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 74 Prozent, so hoch wie noch nie zuvor in Polen seit dem Ende des Kommunismus 1989. Bis drei Uhr morgens standen die Menschen in der Schlange vor den Wahllokalen. Insbesondere viele junge Leute. Sie grinsten in die Kameras, die Finger zum Victory- Zeichen geformt, als wüssten sie, dass sie im Begriff sind, den Kurs ihres Landes zu verändern. Sie hatten genug von acht Jahren PiS-Herrschaft, die Richter:innen zwangspensionierte, kritische Journalist:innen mit Verleumdungsklagen einschüchterte, das ohnehin schon restriktive Abtreibungsverbot verschärfte und in Fundamentalopposition zu Brüssel stand.


Eine Mehrheit von 54 Prozent

Zwar wählten 35,6 Prozent die PiS zur stimmenstärksten Partei, doch die Mehrheit entfiel auf ihre Herausforderer: die Opposition unter der Führung des ehemaligen Premiers und EU-Ratspräsidenten Donald Tusk. Seine Bürgerkoalition kam gemeinsam mit der Linken und dem „Dritten Weg" auf eine Mehrheit von rund 54 Prozent. Längst hat man sich auf eine Koalition geeinigt. Der Vertrag ist unterschrieben, das Comeback von Tusk als polnischer Premier steht trotz verzögernder PiS-Manöver unmittelbar bevor. Wie ihm das gelungen ist, wird in den kommenden Monaten und Jahren eingehend studiert werden. Wie schafft man es, unterschiedliche Kräfte von bürgerlichen Wirtschaftsliberalen, über feministischen Linken bis hin zu konservativen Bauernvertreter:innen und christlichen Umweltschützer:innen so zu bündeln, dass sie trotz aller Differenzen zusammenarbeiten? Ein diverses Bündnis, das mehr eint als nur der Wunsch, eine illiberale Vorgängerregierung loszuwerden?

Bereits hier liegt Polens erste Lektion für alle zukünftigen Herausforderer:innen autoritärer Amtsinhaber:innen. Die Erfolgsgeschichte beginnt mit den letzten Wochen vor der Wahl, erklärt Piotr Buras, Leiter des Think Tanks European Council on Foreign Relations (ECFR) in Warschau. Anfangs schossen sich die Oppositionsparteien auf die PiS als Hauptfeind ein und forcierten so die Polarisierung der beiden Lager: hier die Demokraten der Opposition, dort die Demokratiefeinde der PiS. Doch in den letzten zwei Wochen vor der Wahl änderte sich der Ton. Die Opposition hatte begriffen, dass die polnische Gesellschaft genug hatte von der Polarisierung, und so auch keine neuen Wählergruppen zu gewinnen waren. „Die Oppositionsparteien haben versucht ein positives Image zu verbreiten und die Attacken gegen die PiS runtergefahren", erzählt Buras. Der besonnenere Ton und die Beschwörung eines „zivilen Patriotismus" statt eines „wütenden Nationalismus", wie es die polnisch-amerikanische Journalistin Anne Applebaum einmal formulierte, zahlten sich aus. „Es hat dazu geführt, dass viele Leute, die gar nicht die Absicht hatten, zu wählen, letztlich ihre Stimme für eine demokratische Opposition abgegeben haben. Das hat tatsächlich den Ausschlag gegeben", sagt Piotr Buras.

Tusk, eine lame duck bis 2025?

Nun müssen die Neuen liefern. Und hier beginnt der holprige Teil vom polnischen Herbstmärchen. Die Vorgängerregierung hat genug Versicherungen in den Machtapparat eingebaut, um selbst bei einem Regierungswechsel noch das Sagen zu haben. Beispielsweise hat sie kurz vor der Wahl noch ein Gesetz verabschiedet, dass der stellvertretende Generalstaatsanwalt, der fast die gleichen Kompetenzen hat wie der Generalstaatsanwalt selbst, nur mit Zustimmung des Präsidenten bestellt oder entlassen werden kann. Das heißt: Selbst, wenn bei einem Machtwechsel ein neuer Generalstaatsanwalt Verfahren zu Machtmissbrauch gegen ehemalige PiS-Politiker:innen einleitet, kann er von seinem Adjutanten blockiert werden, wenn der Präsident seine schützende Hand über ihn hält. Und das wird er. Denn Präsident Andrzej Duda ist zwar formell parteilos, gilt aber als eingefleischter PiS-Mann. In den vergangenen Jahren hat er jedes noch so verfassungswidrige Gesetz seiner einstigen Parteikolleg:innen unterzeichnet. Regimekritiker:innen nennen ihn deswegen nur den „Kugelschreiber." Bis 2025 ist Duda noch im Amt. Bis dahin kann er jedes Gesetz der neuen Regierung blockieren, das ihm nicht gefällt.

Jedes einzelne.


Der Verfassungsgerichtshof: der erste Dominostein

Wie lässt sich unter solchen Bedingungen also eine illiberale Demokratie rückabwickeln? Kann man sauber spielen, wenn die anderen es nicht tun? Soll man es überhaupt?

Unbedingt, sagt der Jurist Krzysztof Izdebski bestimmt. Der Zweck heilige nicht die Mittel. Rechtsstaatlichkeit lasse sich nur auf legalem Weg wiederherstellen. Er kennt die Gedankenspiele. So überlegen manche, etwa alle illegal bestellten und beförderten Richter:innen mit einem Schlag auszuwechseln, die gesamte Judikatur und die öffentlich-rechtlichen Medien von den PiS-Lakaien zu „säubern". Doch was wäre daran nachhaltig? Es würde nur den Präzedenzfall schaffen, dass beim nächsten Machtwechsel wieder nur Köpfe rollen. Mit der Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit habe das nichts zu tun.

In Izdebskis Team arbeiten die Jurist:innen daran, ein bestimmtes Organ der polnischen Demokratie wieder lebensfähig zu machen. Den ersten Dominostein, mit dem Polens Judikatur ihre Unabhängigkeit verlor, wieder aufzurichten: den Verfassungsgerichtshof.

Der illegale Doppelgänger

Von Anfang hatte die PiS-Führung das 15-köpfige Tribunal im Visier. Die Gründer der Partei, die Zwillingsbrüder, (der 2010 bei einem Flugzeugabsturz verunglückte ehemalige Präsident) Lech und Jarosław Kaczyński, hatten nie viel übrig für die polnische Verfassung von 1997. Als Machwerk einer postkommunistischen Elite betrachteten die zwei Erzkonservativen das Schriftstück. Bei jeder Gelegenheit würdigten sie es und alle jene, die es verteidigten, herab. Und sie stellten klar: dass sie, die von ihren Landsleuten als Volksvertreter gewählt worden waren, von jenen, die es nicht waren, mit ihren Gesetzen und Vorschriften gegängelt wurden. Bei ihrem Wahlsieg 2015 sollte sich das ändern. Mit der Bestellung des Verfassungsgerichtshofs. Drei Richter, die bereits von der Vorgängerregierung vorgesehen waren, wurden kurzerhand mit PiS-Leuten ersetzt. Die Ernennung dieser drei „Doubles, oder „Doppelgänger", wie sie in Polen genannt wurden, war verfassungswidrig und unvereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention. Das stellte auch der Europäische Gerichtshof klar - und erklärt alle Urteile der drei Doubles für ungültig. Die polnische Regierung ignorierte das Urteil.


Wird der Präsident alles blockieren?

Für Krzysztof Izdebski wäre die erste Reparatur genau bei diesen drei Doubles. Im Entwurf der Batory-Stiftung wird unter anderem vorgeschlagen die drei Doppelgänger mit den rechtmäßigen Richter:innen der Vorgängerregierung auszutauschen. Eine Interimslösung, schließlich endet die neunjährige Periode der Verfassungsrichter:innen in einem Jahr. In den nächsten zwölf Monaten könnten diese drei Personen beginnen, das Chaos der vergangenen Jahre aufzuräumen und die ersten Schritte einzuläuten, auch was Disziplinarverfahren gegen Kolleg:innen angeht, die sich unrechtsmäßig verhalten haben. Es sei eine Minimalkompromisslösung, die man Präsident Andrej Duda bei einem Treffen unterbreiten will. Nicht alle Richter:innen werden mit einem Schlag ausgewechselt, sondern nur jene vormals rechtmäßig bestimmten ganz legal eingesetzt.

Und was, wenn der Präsident, wie erwartet, sein Veto einlegt?

„Dann warten wir eben eineinhalb Jahre auf den nächsten Präsidenten", sagt Izdebski. Er macht sich nicht vor, dass Duda mit der neuen Regierung kooperieren wird. Doch alles blockieren werde er auch nicht. Das wäre nicht in seinem Interesse, schließlich versucht Duda, sich in Stellung zu bringen als PiS-Chef den 74-jährigen Jarosław Kaczyński als neuen Vorsitzenden der Partei zu beerben. Da kommt es nicht gut an bei den Wähler:innen, wenn der Präsident jedes Gesetz blockiert hat. Wie will er erklären, warum er sich etwa weigert, eine Erhöhung der Beamtengehälter, eines von Tusks Wahlversprechen, abzusegnen? Warum sollen Lehrer:innen und Polizist:innen nicht mehr Geld bekommen? Nur aus politischer Vendetta?

Duda wird sich minimal bewegen, prophezeien Beobachter:innen. Doch bei den großen Würfen wird er sich querstellen; allen voran der Judikatur. Es ist unwahrscheinlich, dass er jene Gesetze kippen wird, welche die Europäische Union veranlasst haben, 2017 das Artikel-7-Verfahren gegen Polen einzuleiten - jenes mehrstufige Sanktionsverfahren bei demokratiepolitischen Verstößen, die bis zur Suspendierung der EU-Mitgliedschaft führen können. Und auch dazu geführt haben, dass die EU die Auszahlung von Geldern in Höhe von rund 110 Milliarden Euro zurückhält.

Brüssel darf Polen nicht hängen lassen

Polen braucht dieses Geld. Die neue Regierung braucht dieses Geld. Nicht umsonst ist Donald Tusk unmittelbar nach der Wahl nach Brüssel gereist, um zu signalisieren, dass in Warschau bald wieder ein Partner sitzt. Doch ist die Freigabe der EU-Gelder an „Meilensteine" geknüpft, die im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit der polnischen Justiz stehen. Solange Tusk nicht liefert, kann auch kein Geld fließen. Theoretisch. Doch auch Brüssel weiß, dass man den neuen Partner nicht hängen lassen kann, will man das polnische Herbstmärchen nicht gefährden. Es gar als Blaupause gegen all die demokratiefeindlichen Experimente verstanden wissen will. Tusk muss die Wähler:innen, insbesondere jene, die sich auf den letzten Metern für die Oppositionsparteien entschieden haben, bei der Stange halten.

Schon im März wird in Polen auf Kommunalebene gewählt, im Juni für das Europäische Parlament und 2025 schließlich der nächste Präsident. Wenn die neue Regierung ihre Wähler:innen enttäuscht, hat sie am Ende einen PiS-Präsidenten vor der Nase sitzen, der wieder alles blockieren wird.

Die Zeit rennt. Drei bis vier Monate hat Krzysztof Izdebski das Zeitfenster bemessen. Drei bis vier Monate, um die ersten Pflöcke in dieses Neuland einzuschlagen. Ein Beispiel zu setzen, dem man folgen kann. Dem man in Zukunft vielerorts vielleicht bald folgen muss. Sollte sich das polnische Herbstmärchen für andere wiederholen.


Zum Original