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Zivilisation, das können wir - wenn wir denn wollen

Dieser Tage ist es einfach, den Glauben an die Menschheit zu verlieren. Unsere Autorin Solmaz Khorsand hat es sich zur Aufgabe gemacht, ihn zu suchen - und zu finden. Start einer Erkundung.


Zuversicht ist Neuland im Journalismus. In jeder Hinsicht. Jene, deren Branche sie ihnen niemals vermittelt hat, haben es auch nie als ihre Aufgabe erachtet, sie anderen mit ihrer Arbeit zu vermitteln. Zuversicht ist nicht unser Auftrag. Wie sollte auch überhaupt so ein Journalismus aussehen, der versucht, Zuversicht unter die Leute zu bringen? Wie wird die Welt von diesen Zuversichtlichen beschrieben werden? In matten Pastelltönen? Wunderbar abgerundet, ohne Ecken und Kanten, an denen sich jemand stoßen könnte? Glitzerndes Lala-Land?

Unheimlich, diese Vorstellung. Klingt verdächtig nach Sektengurus, Achtsamkeitsprophet:innen und Esoteriker:innen. Wer sich in unserem Metier ernst nimmt, hat gelernt, sich nichts vorzumachen. Zu misstrauen, umso mehr, wenn Glitzer im Spiel ist. Das Gute ist bekanntlich ja immer zu gut, um wahr zu sein. Es gilt, nach den Ungereimtheiten Ausschau zu halten. Sowohl mit dem Fernglas als auch mit dem Mikroskop. Solang, bis das, was nicht funktioniert, in die grelle Arena gezogen werden kann. Oft präsentiert als Spektakel für ein daueraufgeregtes Publikum. Darauf sind wir geschult. Ganz ohne Pastell. Das bedeutet auch: Zu glauben, zu wissen, wie es um die wahre Natur des Menschen bestellt ist. Um seinen Egoismus, seine Feigheit, seine Hinterhältigkeit. Das zu erkennen, zu analysieren, und Schicht um Schicht freizulegen, gehört zum Kerngeschäft meiner Branche.

Und das ist gut so.

Aber es reicht nicht. Schon so lang nicht.

Das Gute im Menschen

Der Mensch ist mehr als nur ein einziges Defizit, das permanent in allem, was er anpackt - sofern er es überhaupt anpackt - versagt. Ja, es fällt schwer, an das Gute im Menschen zu glauben. Geschweige denn es zu verorten. Insbesondere dieser Tage. Es scheint unter einer Decke verschüttet zu sein, die den berühmten Firnis der Zivilisation zu ersetzen beginnt. Es zu bergen, gleicht einer Mammutaufgabe.

Einer, die zu bewältigen ist.

Auch für notorisch abgebrühte Immerschonwisser:innen. Dafür müssen wir nur hin und wieder die Brille wechseln, die im Menschen mehr sieht als eine tickende Zeitbombe für Korrumpierbarkeit und Barbarei. Um zu erkennen, dass sich die Welt mit einem anderen Blick entspektakularisieren lässt, wie es der Autor Xaver von Cranach in einem Essay einmal beschrieben hat. Weniger Spektakel erlaubt mehr Platz für das Tatsächliche, und schafft so Raum für Empathie und Interesse füreinander.

Die, die den Glauben nicht verloren haben

Denn unsere Spezies hat mehr drauf, als wir ihr zugestehen wollen. Zivilisation, das können wir - wenn wir denn wollen. Wir beweisen es täglich. Selbst in den unerträglichsten Situationen. In der Regel schlagen wir einander nämlich nicht die Köpfe ein, wenn die Nerven blank legen. Wir beherrschen uns, sind gar nachsichtig und versöhnlich. Wir gehen die Extrameile, und das selbst für Menschen, die uns manchmal nicht ganz geheuer sind. Es gibt sie, und zwar zuhauf, all die Befestiger:innen der Zivilisationsdecke. Wir müssen nur etwas öfter die Scheinwerfer auf sie richten, auf die Eigensinnigen, die Ästhet:innen, die Nerds und Überlebenden einer Wirklichkeit, die trotz allem den Glauben an die eigene Art nicht verloren haben.

Es sind Geschichten wie die des Bestatters Enrico Naso, einem Bewohner der italienischen Insel Lampedusa. Er, dem vormals das Verständnis für Geflüchtete fehlte, liest sich heute ein in islamische Bestattungsrituale, um den vielen Toten, die im Mittelmeer ertrunken sind, das letzte Geleit zu geben. Er weiß nicht, ob all diese Menschen wirklich Muslim:innen sind. Er vermutet es. Und will es richtig machen. All die Toten ohne Namen einwickeln in weiße Tücher, so wie es der islamische Brauch will. Weil sich das so gehört. Weil jeder Mensch einen würdigen Abschied verdient hat. Egal, wie man zu ihm steht.


Hier ist sie, die ach so oft begrabene Zivilisation.

Man muss sie nur sehen wollen. Diesen Blick zulassen wollen. Wie etwa jüngst in Vorarlberg, als in Schlins ein Pferd aus dem Bach gerettet wurde. Eine Lokalnachricht, die kaum der Rede wert ist und höchstens amüsiert, wenn man die Bilder des im Geschirr hängenden Pferdes sieht, um das knapp ein Dutzend Feuerwehrmänner steht, die es in einer aufwendigen Aktion geborgen haben. Zuerst haben sie dafür das Wasser des Baches künstlich abgesenkt, danach das Tier aus dem Bach geholt. Ein Tierarzt hat ihm noch eine Beruhigungsspritze gegeben. Weil das Pferd so aufgeregt war. Gestresst, ja traumatisiert.

Die Welt ist ungerecht

So viel Aufwand für ein Tier.

Natürlich ließe sich diese Episode zynisch betrachten. Ein weiterer Beweis für die Ungerechtigkeit der Welt. Anderenorts werden Menschen unter Trümmern von Schutt und Asche begraben, ohne dass ihnen jemand zu Hilfe eilt, um sie zu bergen, geschweige denn, um sie zu beruhigen. Hier kümmert man sich um traumatisierte Pferde.

Das wäre der eine Blick. Der andere würde offenbaren, wie viel Menschlichkeit eine Gesellschaft an den Tag legen kann, wenn sie will. Dass sich ihre Empathie weit über die Grenzen der eigenen Spezies erstrecken kann. Dass in den Menschen doch mehr steckt als nur Egoismus, Feigheit und Hinterhältigkeit.

Diesen Blick gilt es zu schärfen. Mit Fernglas und Mikroskop. Vielleicht entsteht dadurch so etwas wie Zuversicht.

Einen Versuch wäre es wert.

Solmaz Khorsand begibt sich für die WZ einmal im Monat auf die Suche nach den Stützen der Zivilisation.

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