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Revolutionäre Normalität

Jedes Mal aufs Neue reagiert der Körper auf die kleinste Erinnerung an den 16. September. Manchmal ist es eine Melodie, die eine Zeile aus einem Lied, ein Pflaster auf einem verletzten Auge. Ohne Vorwarnung pure Gänsehaut. Für einen Moment lässt sie einen innehalten. Ohne es zu wollen, ruft sie, ja zwingt sie einem ins Gedächtnis was in den vergangenen zwölf Monaten nach dem Tod von Mahsa Jina Amini in Iran passiert ist. Wie viel sich verändert hat. Und wie viel mehr nicht.

 

Zuletzt überraschte sie mich wieder unvermittelt an der Kassa eines hippen Wiener Buchgeschäfts. Zwischen feministischen Erwachungsmomenten reflektierter Jungmütter und Konsumverweigerungsmanifesten polyamoröser Großstädter, war da dieser Bildband ohne Titel. World Press Photo 2023 stand klein in der Ecke. Auf dem Cover eine junge Frau. Alleine sitzt sie auf einem roten Plastikstuhl, mitten auf einem Platz am Teheraner Keshavarz Boulevard. Hinter ihr drängen sich Frauen im Tschador und Kopftuch vor einer Moschee. Während ihre Gesichter von dem Fotografen abgewandt sind, schaut die junge Frau direkt in Ahmad Halabisaz Kamera. Ihr Blick ernst, müde und doch irgendwie herausfordernd. Ihre langen braunen Haare unverhüllt.

 

Mitten in der Menge. Mitten in aller Öffentlichkeit.

 

Pure Gänsehaut.

 

Das ist „das viel“, das sich in Iran nach dem 16. September 2022 verändert hat. Das, was die Protestbewegung „Frau, Leben, Freiheit“ im vergangenen Jahr erreicht hat.  Diesen berühmten point of no return, von dem sie alle sprechen. Dass man im Iran diese Frauen sieht. Mit ihren Haaren. Genauso. Alt wie jung. Und zwar nicht länger vereinzelt, sondern en masse. So sehr, dass in diesem Gottesstaat mancherorts in manchen Vierteln mancher Städte die Illusion entstehen könnten, dass es sich beim Iran um ein Land handelt, in dem Frauen anziehen können, was sie möchten. Ihre Haare bedecken können oder nicht. Lange Übermäntel tragen oder nicht. Ohne, dass jemand etwas sagt. Ohne, dass ihnen etwas passiert. Ohne, dass sie eine Sittenpolizei festnimmt, belästigt, ins Koma prügelt. Sie tötet. Es könnte geradezu der Eindruck entstehen, dass es sich hier nicht um ein theokratisches Regime handelt, dass den Frauen seit seiner Gründung 1979 offiziell mit jedem Gesetz den Krieg erklärt hat. Dass das Fahren im Bus, das Sitzen in einem Café oder das Spaziergehen im Park ohne Kopftuch kein Akt des Widerstands ist – sondern langweilige Normalität.

 

Eine Normalität, die revolutionärer nicht sein könnte. Es braucht einen nuancierten, vielleicht gar wohlwollenden Blick das vergangene Jahr im Iran aus dieser Perspektive sehen zu wollen. Nach dem Tod der 22-jährigen Amini erlebte Iran die größte Protestwelle seit der grünen Bewegung 2009. Damals sind die Menschen wegen Wahlfälschung zu Millionen auf die Straße geströmt und hatten letztlich das Ende der Islamischen Republik gefordert. Zumeist war es eine junge und urbane Intelligenzija. Diese Mal hat die Wut die gesamte Gesellschaft ergriffen, quer durch alle Ethnien, Religionsgruppen, soziale Schichten. Fast jede iranische Familie konnte sich mit dem Schicksal der jungen Kurdin identifizieren, deren Tod die Islamische Republik eher bereit war in Kauf zu nehmen als ein paar Haare auf ihrem Kopf an einem Aufgang einer U-Bahnstation zu erlauben. Sie war die eine zu viel. Die Bilder von Frauen, die ihre Kopftücher abnahmen, sie in der Luft schwangen, und auf Irans Straßen verbrannten, schaffte es auf die Titelseiten internationaler Publikationen. Aus Solidarität schnitten sich Schauspielerinnen und Politikerinnen auf der ganzen Welt Haarsträhnen ab. Amini war zur Ikone geworden und der Kampf der iranischen Frauen zu einem Trend, dem man sich vorbehaltlos anschließen konnte.  Welcher standhafte Demokrat würde das auch nicht unterstützen können? Menschen, die einem Regime - trotz Jahrzehnten der Gewalt – mutig die Stirn bieten, was gibt es Erhebenderes? Umso mehr, wenn es dem eigenen Narrativ der unterdrückten Muslimin in die Hände spielt, die sich endlich von dieser hinterwäldlerischen Religion und ihren Bekleidungsvorschriften wehrt. Dass sie nichts mit diesem Narrativ zu tun haben wollten, bewiesen die Iranerinnen von Anfang an. Sie stellten klar: nicht der Religion haben sie den Kampf angesagt, sondern einem Regime, das sie zur Unterdrückung der Menschen missbraucht.

 

In den ersten Monaten sprachen die Euphorischsten – vor allem in der Diaspora - bereits von einer neuen Revolution. Wieder einmal würde Iran Geschichte schreiben. Nur dieses Mal würde sie nicht von Extremisten gekapert werden, wie es 1979 der Fall war, als Ayatollah Khomenei und seine Islamisten nach dem Sturz der repressiven Monarchie die Macht im Land übernahmen und einen islamistischen Gottesstaat errichteten. Dieses Mal würde es eine Revolution für „Frau, Leben, Freiheit“ werden. Zan, Zendegi, Azadi. Eine feministische Revolution, die Weltgeschichte schreiben würde.

 

Der deutsch-iranische Ali Fathollah-Nejad war nicht so euphorisch. Er blieb bei seinem Terminus des „revolutionären Prozess“, der von vielen Expertinnen verwendet wurde um die Lage im Iran zu erklären. Für ihn hat der Prozess des Umbruchs bei den Protesten 2017 und 2018 begonnen, als vor allem die unteren sozialen Schichten wegen ihrer wirtschaftlichen Unzufriedenheit aufbegehrten. Ein Novum, war sie doch die einstige Basis des Regimes, die sich nun traute die Machthaber so offen herauszufordern, und ebenso das Ende der Diktatur zu skandieren. Von diesem Moment an sollten die Abstände zwischen den Protesten im Land immer kürzer werden. Bei jedem noch so vermeintlich kleinen Anlass standen die Menschen auf der Straße und schrien „Nieder mit der Diktatur.“  Und derer gibt es viele. Das Land steht politisch, ökonomisch und ökologisch an der Wand. Dass jene irgendwann einstürzt, ist nur eine Frage der Zeit.

Es gilt die aktuelle Bewegung als langfristiges Projekt zu sehen und nicht als saisonale Episode, die rasch zu Ergebnissen führt, wie es westliche Beobachterinnen so gerne hätten, erklärt Fathollah-Nejad im Gespräch: „Dass sich Antiregime-Proteste nicht notwendigerweise sofort übersetzen lassen in eine Umwälzung der Verhältnisse, ist klar“, erklärt er, „wer erwartet hatte, dass die Islamische Republik innerhalb kurzen Zeit fällt, hat vieles nicht richtig gesehen.“

 

Ein neues Wir-Gefühl

 

Nach 12 Monaten ist die Bilanz ernüchternd. Über 500 Tote, Tausende Verletzte und Verstümmelte, zuweilen 20.000 Inhaftierte und sieben Männer, die im direkten Zusammenhang mit der Protestbewegung hingerichtet wurden. Und das Regime? Das steht. Wird mit offenen Armen in neue internationale (antiwestliche) Sicherheits-und Wirtschaftsbündnisse willkommen geheißen, wie diesen Sommer in die Shanghai Cooperation Organisation und den Klub der BRICS-Staaten. Und es suhlt sich in seiner alt-bewährten Geiseldiplomatie westliche Staatsbürger im Austausch für Zugeständnisse in Verhandlungen als Faustpfand einzusetzen.

Zugeständnisse hat dieses Regime keine gemacht.  Am wenigsten gegenüber der eigenen Bevölkerung. Mit voller Brutalität sind die Machthaber vorgegangen. In jeder Hinsicht. Aus Angst vor Ausschreitungen am Jahrestag hat man schon einmal präventiv zahlreiche Frauenrechtsaktivistinnen festgenommen, und ebenso Angehörige, deren Verwandte im vergangenen Jahr von Regimeschergen ermordet wurden, eingesperrt. Inklusive Mahsa Jina Aminis Onkel.

 

Alles beim Alten, also? Vielleicht –  wäre da nicht diese neue Normalität. Sie ist es die Irans Machthaber fürchten. Sie sogar dazu bringt im öffentlichen Fernsehen ihre Nervosität gegenüber dieser rebellischen Jugend, diesen wehrhaften Frauen und ihrer insgesamt wütenden Landsleute zuzugeben. Es ist das große Trotzdem einer Bevölkerung, die einem Regime den Mittelfinger entgegenstreckt. Ein Trotzdem, das später in den Geschichtsbüchern studiert werden wird. Wie Musiker trotz Berufsverboten ihre Protestlieder anstimmen. Wie in die Augen geschossene Hebammen trotz ihrer Verletzungen mit Victory Zeichen ihren Dienst antreten. Wie Frauen trotz verschärfter Hijab-Gesetze auf das Kopftuch verzichten. Dass es Normalität geworden ist, dass jene, die sie dafür zurechtweisen, fotografieren, anzeigen beschimpfen oder angreifen wollen von anderen beschimpft, fotografiert, angegriffen und vertrieben werden. Aus Solidarität.

Eine Solidarität, die sich im noch nie dagewesenen Ausmaß dermaßen intersektional begreift.  Zum ersten Mal stellt sich eine Protestbewegung den jahrhundertelangen Verletzungen marginalisierter Gruppen und erkennt diese Menschen als Sperrspitze des aktuellen Widerstands an. Ein neues „Wir“ wird hier definiert. Eines, von dem sich auch eine Diaspora anstecken lässt. Noch nie war sie dermaßen bereit die Vision eines neuen Irans mitzutragen. Kinder von Exiliranerinnen versuchen ihr gebrochenes Persisch aufzupolieren, beschäftigen sich zum ersten Mal mit der Biografie ihrer Eltern, lassen sich von ihnen beibringen „Zereshk Polo“, den persischen Berberitzenreis zu kochen und lernen die Geschichte eines Landes, das bislang für sie vor allem mit Trauer und Trauma verbunden war.

Zum ersten Mal sind sie bereits sich auseinanderzusetzen damit, was passiert ist in den 1980er Jahren als das Regime Tausende Oppositionelle hinrichten ließ, gedenken an Jahrestagen der zehn Bahai-Frauen aus Shiraz, die 1983 wegen ihrem Glauben an den Galgen kamen und erinnern die internationale Community an Terroranschläge auf europäischen Boden, wie jenem auf den kurdischen Politiker Abdulrahman Ghassemlou in Wien im Juli 1989, dessen Mörder die österreichischen Behörden zum Flughafen eskortierten. All das findet nun Eingang in das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft, die 44 Jahre lang nicht nur unterdrückt, sondern auch gespalten und voneinander entfremdet wurde.

 

Nun ist da ein Band, das nicht so schnell zerreißen wird. Ein neues Wir, das auf Hochtouren an der Vision eines neuen, freien, demokratischen Iran arbeitet. Eines, das für die Machthaber gefährlicher nicht sein kann. Weil es trotz allem die Hoffnung nicht aufgegeben hat. Trotz Mahsa Jina Amini, Nika Shakarami, Sarina Esmailzadeh, Hadis Najafi, Kian Pirfalak, Javad Roohi. Auch das ist Teil der Bilanz aus einem Jahr „Frau, Leben, Freiheit.“  Die Hartnäckigkeit, die ihresgleichen sucht. Und Schritt für Schritt an einer neuen Normalität arbeitet, die irgendwann auch im Iran langweilige Realität wird.

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