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Irans großes Trotzdem

Die Proteste im Iran dauern seit einem Jahr an. Das Regime machte bislang keine Zugeständnisse. Und doch haben die Proteste das Land stark verändert

Im Iran gibt es eine Form der Solidarität, die sich mit dem persischen Ausdruck „Ruhiye dadan" am besten beschreiben lässt. Er bedeutet, einander Mut zu machen. Wörtlich lässt er sich übersetzen mit: „Leben oder Geist geben". Und irgendwie hat „Ruhiye dadan" etwas Spirituelles - als hätte tatsächlich ein Geist von den Menschen Besitz ergriffen. Als könnten sie gar nicht anders, als einander zu ermutigen, ihren Widerstand gegen die Islamische Republik fortzusetzen.

Ob auf der Straße, wenn Passanten unverschleierte Frauen verteidigen, die von Sittenwächterinnen belästigt werden. Ob im Gefängnis, wenn fünf Menschenrechtsaktivistinnen einen Brief nach außen schmuggeln, um den Kampfgeist ihrer Landsleute aufrechtzuerhalten, wenn sie schreiben, „dass die Straße der einzige Weg zur Revolution und zum Ende der Diktatur ist". Oder ob aus dem Exil, mit dem Versprechen, auch im Ausland nichts unversucht zu lassen, um diesen Gottesstaat, der seit der Revolution 1979 die iranische Bevölkerung heimsucht, zum Einstürzen zu bringen.


All das soll gegenseitig bestärken weiterzumachen. Trotz allem. Dieses „Ruhiye dadan“ ist ansteckend, auch für Experten, die es nicht gewohnt sind, durch die Brille jener zu sehen, die in Diktaturen überleben müssen. Manche würden behaupten, dass es den Blick trübt. Ich behaupte: es erweitert ihn. Auch dabei, Bilanz zu ziehen, wie sich ein Land nach dem Tod von Mahsa Jina Amini am 16. September 2022 verändert hat.


Am Samstag gedenken Menschen im Iran und im Ausland der 22-jährigen Kurdin, die vor einem Jahr bei einem U-Bahn-Aufgang in Teheran wegen eines angeblich nicht korrekt sitzenden Kopftuchs von der Sittenpolizei festgenommen und ins Koma geprügelt wurde. Ihr Tod war die Geburtsstunde der feministischen Protestbewegung „Frau, Leben, Freiheit“. Einer Bewegung, die ein Land quer durch alle Ethnien, Religionsgruppen und soziale Schichten hinweg in einer Forderung auf nie dagewesene Weise vereinte: die Islamische Republik zu stürzen.

Es wäre ein Leichtes, zynisch auf das vergangene Jahr zu blicken. Dass die Iranerinnen und Iraner, die so viel mit ihren Märschen, Streiks, Tänzen und brennenden Schleiern unter internationalem Jubel riskierten, ihr Ziel nicht erreicht haben. Das Regime steht noch. Kein einziges Zugeständnis hat es gemacht. Stattdessen gab es das, was es immer gibt, wenn aufbegehrt wird: pure Gewalt. Die Bilanz: über 500 Tote, zuweilen 20.000 Inhaftierte und sieben Männer, die im direkten Zusammenhang mit den Protesten hingerichtet wurden.

International hat man anfangs noch reagiert. Immer mehr Regimeangehörige kamen auf Sanktionslisten, die UN kickten den Iran aus der Frauenrechtskommission und beauftragten eine eigene Taskforce, die aktuellen Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Historische Meilensteine. Doch spätestens als es Anfang 2023 auf den Straßen stiller wurde, nahm die beherzte Anteilnahme der internationalen Community an „Frau, Leben, Freiheit“ ab. Man konzentrierte sich wieder auf die Wiederbelebung des Atomdeals und darauf, westliche Staatsbürger vor den Gittern und den Galgen der Islamischen Republik zu schützen.

Alles beim Alten also? Amini nur eine weitere traurige Fußnote in der iranischen Protestgeschichte? Vielleicht – wäre da nicht diese neue revolutionäre Normalität im Land. Sie ist es, die Irans Machthaber fürchten. Die sie dazu bringt, im öffentlichen Fernsehen ihre Nervosität angesichts der rebellischen Jugend und der wehrhaften Frauen zuzugeben. Aus Angst vor dem Jahrestag wurden präventiv zahlreiche Frauenrechtsaktivistinnen und Angehörige, deren Verwandte im vergangenen Jahr ermordet und eingesperrt worden waren, festgenommen. Darunter auch Mahsa Jina Aminis Onkel. Die Familie hat trotzdem alle „Freiheitskämpfer des Landes“ zum Jahrestag zu Aminis Grab gebeten.

Genau vor diesem Trotzdem fürchten sich die Machthaber. Wie Familien sich nicht davon abbringen lassen, trotz aller Einschüchterungen ihrer Toten zu gedenken. Wie Frauen trotz verschärfter Hidschab-Gesetze in der Öffentlichkeit auf das obligatorische Kopftuch verzichten. Als wäre nichts dabei. Als wäre es ganz normal. Als würden sie längst in dem freien Land leben, das seit dem 16. September in ihren Köpfen immer konkretere Form annimmt.

Ein neuer Iran mit einem neuen Wir-Gefühl, das nicht nur zum ersten Mal den jahrhundertelangen Verletzungen marginalisierter Gruppen Rechnung trägt und sie als Speerspitze des aktuellen Widerstands anerkennt, sondern auch eine Diaspora angesteckt hat. Auch sie will ihren Beitrag leisten. Kinder von Exil-Iranerinnen polieren dafür ihr gebrochenes Persisch auf, beschäftigen sich erstmals mit der Biografie ihrer Eltern und lernen die Geschichte eines Landes, das bislang nur mit Trauer und Trauma verbunden war.

Sie fügen sich ein in die Reihe der Mutmacher, und üben sich in der Zähigkeit jener, die nach 44 Jahren nicht verlernt haben zu hoffen, dass eines Tages ihr Trotzdem zu dem Ergebnis führt, das sie unter Lebensgefahr erkämpft haben: ein freier Iran.


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