Im Iran ist Stille gefährlich. Es darf nicht ruhig werden, weder analog noch digital. Denn wenn es ruhig wird, kommen die Regimeschergen und holen einen. Was nach einem Schauermärchen klingt, wiederholen Iranerinnen im In-und Ausland wie eine düstere Prophezeiung. Daher ist sie auch Teil ihres Appells an die Welt, die langsam müde wird von den ewig gleichen Nachrichten aus ihrer Heimat. Wo nach vier Monaten Protesten, ausgelöst durch den gewaltsamen Tod von Mahsa Jina Amini am 16. September, die Islamische Republik immer noch steht. Was ist denn jetzt mit der feministischen Revolution? Wir wollen umschalten!
Im Iran weiß man, dass Revolutionen nicht über Nacht passieren. Dass die Islamische Republik, deren Gründungsväter sich 43 Jahre an der Macht gehalten haben, nicht so schnell mit ein paar Protesten, Streiks und Kunstaktionen in die Knie gezwungen werden. Dass es den langen Atem braucht. Und dass dieser einer Weltöffentlichkeit fehlt, die rasch resigniert, wenn der nächste Plot-Twist zu lange auf sich warten lässt.
Bislang war das Regime für diese Plot-Twists zuständig. Auf perverse Weise. Von Woche zu Woche überbietet sich der Repressionsapparat darin mit welchen Mitteln er der Bevölkerung dieses Mal den Krieg erklärt. Mit scharfer Munition auf der Straße, Vergewaltigungen in den Gefängnissen, Todesurteilen in Scheinprozessen vor Revolutionsgerichten. Und schließlich Hinrichtungen. Ein Gewaltexzess, der selbst uns gebietet für eine Augenblick nicht den Kanal zu wechseln.
Damit hat das Regime das erreicht, wogegen es seit Jahrzehnten ankämpft: seinen Paria-Status in der Weltgemeinschaft zu zementieren. Der iranische Widerstand gegen die Theokratie hat es nicht nur auf die Covers internationalen Magazine geschafft, sondern auch auf der Weltbühne einiges ins Rollen gebracht, was vorherigen Protestbewegungen nie in dem Maß geglückt war: die Menschenrechtslage in den Mittelpunkt gerückt. Europäische Politiker übernehmen Patenschaften für Inhaftierte und zum Tode Verurteilte. Die UNO plant eine eigene Truppe zur Aufklärung von Menschrechtsverletzung im Iran, und kickt das Land nebenbei noch aus der Frauenrechtskommission. Und im Exil beginnen sich iranische Prominente zu einer nie dagewesenen Koalition zu formieren.
Es sind historische Meilensteine, denen eine hoher Blutzoll vorausging. Erst, wenn sich genug tote Körper im Iran stapeln – und nicht nur dort – ist das Ausland gewillt etwas länger hinzusehen oder gar zu handeln. Diese Regel der Aufmerksamkeitsökonomie hat sich bei Iranern auf schmerzliche Weise eingebrannt. „Wir hier können nur sterben, mehr als unsere Körper haben wir nicht“, schreibt eine Bekannte. Man hat gelernt: das Konzept „Märtyrer“ funktioniert in jeder Kultur. Ab einem gewissen Maß triggern genug Tote, Vergewaltigte, Inhaftierte und Exekutierte die internationale Empathie dermaßen, dass Ignoranz und Desinteresse gegenüber anderen keine Option mehr zu sein scheinen. Vor einigen Wochen ertränkte sich ein Iraner in Lyon, in der Rhones, und begründete seinen Suizid in einem davor aufgenommenen Video – ausdrücklich nicht mit psychischen Problemen – sondern mit der Intention „die Aufmerksamkeit der Europäer, der europäischen und westlichen Länder auf die Situation im Iran zu lenken.“
Das Video wurde allzu bereitwillig und unreflektiert, auch von Medien, verbreitet. So bedauerlich diese Verzweiflungstat auch ist, ist sie gerade in ihrer- vermeintlich ausschließlich- politischen Dimension absolut zu verurteilen. Welche Denkschule manifestiert sich denn hier? Die Tradition jener Männer, die einem Messiaskomplex anhängen, dass sie mit ihrem Tod die Welt aus den Angeln heben können? Auf diese Tradition lässt sich getrost verzichten. Es ist zu hoffen, dass der Fall nicht Schule macht. Aber er dokumentiert Eines: das Trauma einer Bevölkerung, das sich in der Fremde nicht plötzlich in Luft auflöst. Sondern sich verstärkt und gar vermischt mit der Überlebensschuld jener, die im Exil verschont sind von der unmittelbaren Gewalt eines Regimes, das sie einst dorthin getrieben hat. Daher wollen sie umso lauter sein. Mitunter auf morbide Weise.