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Macht der Märtyrer

Es mag nur ein kleiner Sieg sein für die Menschen im Iran. Aber es ist einer, der es in sich hat. Sie haben sich etwas zurückgeholt. Ein Wort, das 43 Jahre lang gekapert wurde von den Machthabern: Revolution. Es hat einen alten im Iran lang vergessenen Klang wieder. Den nach Aufbruch, Veränderung und Hoffnung. Wer heute als revolutionär bezeichnet wird, trägt die Zuschreibung mit Stolz. Er betrachtet es nicht länger als Schimpfwort für all jene, die 1979 das Land dorthin gebracht haben, wogegen seine Bevölkerung schon so lange aufbegehrt: die Islamische Republik.

 

Seit über drei Monaten stehen die neuen Revolutionärinnen quer durch alle Bevölkerungsschichten nun auf der Straße, den Universitäten, den Schulen, den Fabriken. Sie fordern nach dem Tod der Kurdin Mahsa Jina Amini, unter der Parole „Frau, Leben, Freiheit“ nichts Geringeres als den Systemsturz. Und sie bieten Tag für Tag einem Regime die Stirn, das nur mit roher Gewalt zu kontern weiß. Doch Tote, Inhaftierte, Vergewaltigte und seit 8. Dezember staatlich Exekutierte haben die Protestierenden nicht einschüchtern können. Im Gegenteil. Jeder Tote, jede Inhaftierte, jeder Hingerichtete befeuert die Bewegung. Das weiß Irans Machtelite nur zu gut. Daher endet die Brutalität auch nicht mit dem Tod ihrer Gegner. Trauerfeiern werden untersagt, Grabsteine zerstört, leblose Körper aus Leichenhallen geklaut und ohne das Wissen der Familie an unbekannten Orten begraben. Um das zu verhindern bahren Eltern schon einmal ihre toten Kinder in ihren Wohnungen auf Eis, wie im Fall von Kian Pirfalak, jenem 10-Jährigen, der an den Regenbogengott glaubte und so gerne Roboteringenieur geworden wäre.

 

Die Macht der Toten ist im Iran nicht zu unterschätzen. Das Land hat einen ausgeprägten Trauer-und Märtyrerkult, der religiös und kulturell bedingt ist – und politisch schon immer gerne instrumentalisiert wurde. Allen voran von jenen, die heute das Land regieren. Sie wissen um die Macht der Märtyrer. Schon einmal haben sie eine Revolution ausgelöst, ihre Revolution.

 

Im Januar 1978 wurden Anhänger des späteren Revolutionsführers Ayatollah Khomenei in Protesten in der Stadt Qom getötet, nachdem sie gegen einen verleumderischen Artikel über den Geistlichen in der Tageszeitung Ettelaat demonstriert hatten. Ihr Tod und die anschließenden Gedenkzeremonien 40 Tage später lösten weitere Proteste aus, die wieder gewaltsam niedergeschlagen wurden. Und wieder zu Toten führten, die neue Anhänger mobilisierten. Eine unaufhaltsame Gewaltspirale, die schließlich im Februar 1979 zum  endgültigen Kollaps des repressiven Shah-Regimes führte.

Ja, die greisen Revolutionäre wissen nur zu gut, um die Macht der Trauer im Iran. Am dritten, siebenten und 40. Tag nach dem Tod wird den Verstorbenen gedacht. Drei gefährliche Tage, die den Iranern in Erinnerung ruft, was ihnen ein Regime, das sie seit 43 Jahren knechtet, genommen hat. Ein Pulverfass bei über 500 Toten.

 

Nicht umsonst trauen sich nach den ersten Hinrichtungen auch zunehmend mehr schiitische Geistlichen aus der Deckung, um den Gewaltexzess ihrer Glaubensbrüder anzuprangern. Etwa Morteza Moqtadei, ein Mullah aus Qom und ehemaliger Vorsitzender des Obersten Gerichtshofs. Er betonte, dass jene Hingerichteten, die mit der Anklage „Krieg gegen Gott“ exekutiert wurde, nicht in diese Kategorie fallen würde und daher auch nicht die Todesstrafe verdient hätten. Auch andere Geistliche schlossen sich diesem Urteil, mitunter scharf wie zuletzt Abdullah Nuri, ein ehemaliger Innenminister in der Regierungszeit von Mohammad Khatami. In einer Erklärung auf seinem Telegramkanal stellt er sich nicht nur auf die Seite der Protestierenden, sondern kritisiert auch „das Schweigern schiitischer Autoritäten“: „Hat das Abschlachten von Moral und Menschlichkeit mit Drohungen und nackter Gewalt der Regierung gegen den Protest der Menschen eine moralische und religiöse Rechtfertigung? Wenn nicht, wie erfüllen sie ihre religiöse Pflicht, das Gute zu gebieten und das Böse zu verbieten?“

 

Die Vertreter der sunnitischen Minderheit sind in ihrer Solidarität schon weiter. Von Anfang an leisteten auch sie Widerstand, allen voran jene Geistliche aus den kurdischen Gebieten, wo das Regime in Städten wie Mahabad, Sanandaj und Javanrud mit scharfer Munition einen regelrechten Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt, und ebenso aus Sistan-Belutschistan, der ärmsten Region des Landes. Dort hat die Protestbewegung mit Maulavi Abdulhamid Ismailzahi eine der interessantesten Befürworter gefunden, der sich mittlerweile auch im Rest des Landes (und der Diaspora) einer Fanbase erpredigt hat. Der konservative Freitagsprediger der Stadt Zahedan, in der das Regime am 30. September an einem Tag rund 100 Menschen getötet hat, verurteilte nicht nur die Brutalität der Islamischen Republik und die systematischen Vergewaltigungen in den Gefängnissen, sondern plädierte auch für Rede-und Versammlungsfreiheit und ein Referendum, in dem die Iraner selbst entscheiden sollte, in welche Richtung ihr Land gehen soll.

 

Widerstand aus Khameneis Familie

 

Diesen Widerstand in all seinen Nuancen zu erkennen ist wichtig. Denn es sind diese Nuancen die eine Breite demonstrieren, die vor allem im Ausland nicht immer erkannt wird – oder erkannt werden will. Es lässt sich nicht abstreiten, dass ein gewisses Interesse der Weltöffentlichkeit an den mutigen Iranerinnen auch darin begründet ist, dass hier Musliminnen ihre Kopftücher verbrennen. Eine ganze Bewegung als perfekte Projektionsfläche für die eigenen Ressentiments gegen eine Religion und ihre Anhänger ohne den iranischen Kontext zu berücksichtigen. Aber die Iranerinnen lassen das nicht zu. Von Anfang an stellten sie klar: wir kämpfen nicht gegen die Religion – wie es das Regime selbst gerne so darstellt um die Protestierenden zu spalten und Angst unter den Frommen zu erzeugen - , sondern wir kämpfen gegen jene, die sie politisch missbrauchen und für die es Zeit ist nach 43 Jahren endlich das Feld zu räumen. Ob Frauen in Sistan-Belutschistan, die brüllen „ob mit oder ohne Hijab, wir alle marschieren Richtung Revolution!“, oder die inhaftierte Frauenrechtsaktivistin Fatemeh Sepehri im Tschador, deren Konterfei auf Plakaten über Autobahnüberführungen hängt bis hin zur religiösen Farideh Moradkhani, einer mittlerweile ebenfalls inhaftierten Menschenrechtsaktivistin. Und der Nichte von Revolutionsführer Ali Khamenei, der obersten Autorität des Landes. In einer Videobotschaft appellierte die 51-Jährige an die freien Menschen überall dieses „mörderisches und Kinder tötendem Regime“  aufzuhalten und verglich ihren Onkel mit Hitler und Mussolini.

Auch das mag viele überraschen. Widerstand aus der eigenen Familie? Geht das? Ja, es hat sogar Tradition. Nicht nur Khameneis Nichte, auch sein Neffe, sein Bruder und seine Schwester sie alle stehen schon lange in Opposition zu ihrem prominentesten Familienmitglied.

 

Irans Widerstand hat viele Gesichter. Und genauso heterogen wie die wehrhafte Zivilgesellschaft ist, so heterogen ist auch der Machtappart. Nicht jeder hängt mit derselben Motivation und mit derselben Intensität an diesem Regime. Es wäre naiv zu denken, dass etwa jeder der geschätzt 200.000 Revolutionsgarden oder der – nach eigenen Angaben – 25 Millionen starken Basijmilizen, jenem Freiwilligenverbund, dessen paramilitärischer Arm für die Niederschlagung von Protesten zuständig ist, im selben Maß dem Regime die Stange halten. Ebenso naiv wäre es zu glauben, dass sie jederzeit überlaufen könnten. Nicht deutet darauf hin, dass sie sich den Protestierenden anschließen würden. Aber sie sind der Schlüssel für einen Systemsturz. Wenn sie ihre Loyalität aufgeben, ist die Islamische Republik Geschichte. Dazu muss die Bewegung hingegen wachsen. „Wir kommen noch nicht auf die Zahlen auf der Straße“, sagen Oppositionelle im Ausland leise, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass sie an diese Bewegung zweifeln würden, gar ihre Landsleute demotivieren wollen würden. Die Zahlen sind wichtig, denn sie machen Angst, weil sie die letzten Anhänger am Ende des Tages dazu bewegen auf der richtigen Seite der Geschichte stehen zu wollen. Und vor allem die eigene Haut zu retten. Doch dazu brauchen sie auch eine Garantie der Protestierenden. Ein Zeichen des Goodwills, dass es dieses Mal anders ablaufen wird, als beim letzten Mal. Dass sich die neuen Revolutionäre zivilisierter verhalten werden, als die alten von 1979. Und dass sie ihrer Revolution nicht eines Tages den Klang der Hoffnung rauben.

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