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Die Revolution der Löwinnen

„Das ist kein Protest mehr, das ist der Beginn einer Revolution“, schreien Studierende vergangene Woche vor Teherans Khaje Nasir Universität. Das Wort „Revolution“ wird im Iran nicht leichtfertig verwendet, es hat weder etwas Abstraktes noch Romantisches. Hat man doch vor 43 Jahren erlebt, was es heißt, wenn ein System in seinen Grundfesten nicht nur erschüttert, sondern gänzlich zum Einsturz gebracht werden kann. Über 2500 Jahre Monarchie mit einem Schlag weg. Voilà Islamische Republik. Ja, der Iran kann Revolution.

 

Daher kann die aktuelle Protestbewegung nach dem Tod von Mahsa Jina Amini, einer jungen Kurdin, die in Polizeigewahrsam gestorben war, nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Welt erlebt hier nicht nur einen feministischen Protest, der zum ersten Mal ein ganzes Land erfasst, sondern einen, der für viele den Anfang vom Ende der Islamischen Republik bedeutet. In iranischen Exilmedien wird rauf und runter diskutiert, was die nächsten Schritte sein müssten, um die Bewegung am Laufen zu halten, wie sie unterstützt werden könnte, wie elementar das feministische Momentum hier ist, wenn Tausende Frauen und Männer auf der Straße unter der Parole „Frau, Leben Freiheit“ zum ersten Mal Frauenrechte an die Forderungen nach Freiheit und Demokratie koppeln.

 

Den Expertinnen und Journalisten ist anzumerken, wie sie balancieren zwischen der Trauer über die Toten und der Euphorie, wie lange ihre Landsleute schon durchhalten. Woche vier und sie stehen immer noch, brüllen immer noch, tanzen immer noch. Alte wie Junge. Männer wie Frauen. Kurdinnen wie Belutschen. Trotz der über 100 Toten, Tausenden Verletzten und Hunderten Inhaftierten, die niedergeknüppelt in den vollen Gefängnissen vor sich hinsiechen ohne medizinische Versorgung. Trotz dem Sturm der Milizen und Polizei auf Teherans Eliteuniversität Sharif. Trotz dem Massaker in Zahedan in der südöstlichen Provinz Sistan-Belutschistan, der ärmsten des Landes, wo 82 Menschen laut Amnesty International von Regierungsbeamten getötet wurden. Trotz den Gewaltexzesse in der Provinz  Kurdistan. Und trotz der Jagd, nach all jenen, die gar nicht auf die Straße gehen, sondern von zu Hause ihre Mitstreiterinnen in Posts und Videos anfeuern.

 

Ignorante Weltöffentlichkeit

 

Es ist eine Euphorie über dieses riesige Trotzdem, das noch viel zu wenig in der Weltöffentlichkeit den Respekt erfährt, den es verdient. Sei es, weil der Krisenakku, wie es die deutsch-iranische Journalistin Isabel Schayani formulierte, in Europa mit Krieg, hohen Energiepreisen und Pandemie am Limit ist, oder aus weltanschaulichen Gründen. Es scheint einige Kommentatorinnen zu irritieren, dass ausgerechnet Frauen im Nahen Osten, allen vormachen, wie einem tödlichen Patriarchat zu begegnen ist. Plötzlich will das nicht mehr so ganz zusammenpassen, das Bild der ohnmächtigen und unterwürfigen Frau „von da unten“, mit dem, was nun seit vier Wochen die gesamte Welt bezeugen kann: hier ist niemand ohnmächtig. Und war es auch nie. Trotz aller Repression.

 

Die Mädchen, die heute ihre Direktoren vom Schulgelände jagen, Bilder von Revolutionsführer Ruhollah Khomeini aus ihren Schulbüchern reißen und jenen mit seinem Nachfolger Ali Khamenei mit unbedecktem Kopf den Mittelfinger entgegenstrecken, sind die Nachkommen von Generationen von Frauen, die sich seit der Revolution 1979 gegen dieses Regime gewehrt haben. Egal ob sie bei der ersten Demonstration gegen die Islamische Republik gegen den Verschleierungszwang demonstriert haben, oder in den Jahren und Jahrzehnten danach in den kleinen und großen Akten des zivilen Ungehorsams.

Vom Auftragen von Lippenstift bis zur Verteidigung von Mandantinnen, die zu Gefängnisstrafen verurteilt werden, weil sie als „Girls of Enghelab Street“ ihr Kopftuch in aller Öffentlichkeit abgenommen haben. Der persische Ausdruck, „Shirzan“, Löwenfrau, kommt nicht von ungefähr. Daher erstaunt es auch wenige Iranerinnen, dass es nach 43 Jahren die Frauen sind, die jetzt an vorderster Front stehen – und zum ersten Mal eine Hoffnung nach echter Veränderung in der Gesellschaft keimen lassen. Fast so als würde sich ein Kreis schließen, die ersten Opfer der Islamischen Republik, zwingen sie nun in die Knie. Kismet, liebe Ayatollahs, kismet.

 

Angst vor zweitem Syrien

 

Was alle hingegen in Erstaunen versetzt, ist diese neue Generation auf der Straße. Diese scheinbar angstbefreite Generation Z der 10-bis 25-Jährigen, die jedes Mal, wenn das Regime eine der ihren tötet  - ob  Mahsa Jina Amini (22), Nika Schakarami (17) oder Sarina Esmailzadeh (16) -  noch wütender auf die Dächer von Polizeiautos steigen und jede Hand wegschlagen, die sie versucht runterzuholen. Sie verweigert sich dem alten Widerstand, den die Iraner bis dato kannten. Dem Versuch das System von innen zu reformieren und nach den kafkaesken Regeln der Islamischen Republik zu spielen. Sie will nicht mehr ihre Filme innerhalb der eng gezeichneten roten Linien drehen – und trotzdem inhaftiert werden. Sie will nicht die Sprache der Islamischen Jurisprudenz lernen, um nach Schlupflöchern für mehr Freiräume zu suchen, die ihnen niemals gewährt werden. Sie will nicht mehr zur Wahl gehen und dem einen Mullah ihre Stimme geben, der ein bisschen weniger radikal ist als all die anderen, in der Hoffnung so das System zu öffnen. Diese Generation weiß, dass sich das System nicht öffnen wird. In 43 Jahren hat es das nicht getan. Daher muss sie die ultimative Forderung stellen: den Systemsturz. Nach der Niederschlagung der Proteste 2009, als Millionen wegen Wahlbetrug auf der Straße waren, wurde diese Forderung immer leiser. Auch mit der Angst im Hinterkopf ein zweites Syrien zu werden, wenn das System destabilisiert wird. Klar sei man im Iran unterdrückt, wirtschaftlich am Boden und international isoliert – aber zumindest gibt es keinen Bürgerkrieg, keine Terrormilizen, kein Chaos. Zumindest das. Jetzt ist selbst diese Angst gefallen. Man geht aufs Ganze. Komme, was wolle.

 

Natürlich macht sich niemand vor, dass der Regimesturz unmittelbar bevorsteht. Es gibt weder eine Führung noch eine Organisation. Aber es beginnen sich Netzwerke, Methoden und Gedankenexperimente zu entwickeln, die nicht unwesentlich sind für die Zukunft. So haben bereits die ersten Streiks stattgefunden, etwa von Lehrern und Geschäftstreibenden. Händler in einzelnen Regionen, wie Kurdistan haben ihre Läden geschlossen und vergangenen Samstag haben sich ihnen sogar einige aus Teherans Bazar angeschlossen. Ein kleines Déjà-vu für die Machthaber, waren es doch die Bazaris, deren Teilnahme so entscheidend war für den Erfolg der Islamischen Revolution.

Vor knapp einer Woche haben auch die Arbeiter der Öl-Industrie gedroht zu streiken, wenn das Regime die Gewalt gegen die Protestierenden nicht einstellt. Die ersten haben diese Drohung am Montag in einigen Städten im Süden des Landes bereits wahr gemacht. Sollten sich diese Streiks ausweiten, wäre das ein Gamechanger. Denn dann ist die Islamische Republik an ihrer sensibelsten Stelle getroffen: ihren Einnahmen.

 

Ob die aktuelle Bewegung, die unterschiedliche Bewegungen bereit in sich vereint hat – von den Frauen über die Studierenden bis zu den Arbeitern -  das Zeug für eine echte Revolution in naher Zukunft hat, traut sich niemand vorhersagen. Essentiell für eine derartige Prognose, wäre zu wissen, wie sich die unterschiedlichen Sicherheitskräfte verhalten. Ein schwieriges Unterfangen, da es sich um konkurrierende nicht monolithische Machtblöcke handelt, von der nach der Revolution entmächtigenden Armee über die omnipotente Revolutionsgarden bis hin zu den einfachen Basij-Milizen aus dem Volk.

 

Es gibt Videos, die zeigen, dass einige Uniformierte mit den Protestierenden sympathisieren, gar vereinzelt mitmarschieren. Wie breit dieser Zuspruch tatsächlich ist und vor allem werden kann, ist entscheidend für die Stabilität der Islamischen Republik. Noch hat sie der 83-jährige Revolutionsführer Ali Khamenei, dessen Tod man seit Jahren vorhersagt, fest im Griff. Sollte er jetzt sterben, ist unklar, wie loyal sich der Staatsapparat, der aus fragmentierten Entitäten besteht, seinem Nachfolger gegenüber verhalten wird. Bei einer Inflation von 50 Prozent und einer Bevölkerung, bei der mit 33 Millionen mehr als ein Drittel unter der Armutsgrenze lebt, gibt es auch unter Regimeanhängern, genug, die nicht länger bereit sind so eine Islamische Republik um jeden Preis zu verteidigen.

 

Sollten diese tatsächlich die Seiten wechseln, erlebt die Welt den ersten feministischen Protest, der ein Regime zum Einsturz gebracht hat. Eine Revolution im Konjunktiv. Es ist mehr als die Iranerinnen in den vergangenen 43 Jahren je zu hoffen wagten.

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