Wer in einer freien Gesellschaft aufgewachsen ist, dem fehlt zuweilen der Horizont, um verstehen zu können, was Widerstand und Fortschritt in unfreien bedeuten können. So wird die Qualität einer Protestbewegung gerne daran gemessen, was sie bewirkt hat. So auch die Frage dieser Tage, welches Potenzial die aktuellen Proteste im Iran nach dem Tod von Mahsa Jina Amini haben. Wird das Regime kollabieren? Ist es nach 43 Jahren Islamischer Republik nun endlich so weit?
Betrachtet man die Sache unter diesem Gesichtspunkt, wird man im Iran schnell zur Pessimistin. Kein Protest hat das bislang seit der Islamischen Revolution 1979 geschafft. Das Regime ist nicht kollabiert, nicht, als Studenten 1999 gegen die Schließung einer liberalen Zeitung protestierten, nicht, als die Intelligenzija 2009 gegen Wahlbetrug auf die Straße ging, und nicht 2019, als sich die ärmeren Bevölkerungsschichten gegen die hohen Benzinpreise zur Wehr setzten. All diese Proteste wurden niedergeschlagen. Von Mal zu Mal härter, blutiger, unbarmherziger. Jedes Mal stand am Ende die Islamische Republik noch.
Das lässt eine Abgebrühtheit und Arroganz entstehen, dass Protest im Iran nichts bringt außer Toten und Inhaftierten. Das ist falsch und tut der iranischen Bevölkerung unrecht. Proteste müssen in ihrer Kontinuität gesehen werden, peu à peu höhlen sie das System aus, bis eines Tages dieses klapprige Skelett tatsächlich zu Staub zerfällt.
Die aktuelle Bewegung im Iran ist einzigartig. Erstens handelt es sich um einen feministischen Protest, der das gesamte Land erfasst hat, von der Großmutter bis zum Enkel, vom Arbeiter aus der Provinz über die Unternehmerin aus der Großstadt bis hin zu den Partykids auf den Urlaubsinseln im Persischen Golf.
Was sie auf die Straße getrieben hat, waren nicht der Wunsch nach fairen Wahlen, Misswirtschaft, ausstehende Gehälter, sondern der Tod einer jungen Frau in Polizeigewahrsam. Mahsa Amini, eine unpolitische 22-Jährige aus der westiranischen Provinz Kurdistan, wurde bei einem Besuch in Teheran von der Sittenpolizei festgenommen, weil ein paar Haare aus ihrem Kopftuch hervorgeblitzt haben sollen. Wenige Tage später war sie tot. Augenzeugen berichten von Schlägen auf den Kopf, Medien zugespielte CTs zeigen Hirnblutungen, die Polizei spricht von einem plötzlichen Herzinfarkt und weist jede Schuld von sich.
Der Hidschab-Zwang, die züchtige Bedeckung von Haut und Haar und damit die Kontrolle über den weiblichen Körper, gehört zu den Grundpfeilern der Islamischen Republik, die seit Beginn Frauen zu Menschen zweiter Klasse degradiert. Der Fokus auf die Kleiderordnung und ihre Durchsetzung zählt zu den effektivsten Methoden des Regimes, die Iranerinnen seit über vier Jahrzehnten wegen ein paar sichtbarer Haare zu entrechten und zu erniedrigen. Und jetzt auch zu töten.
Gewehrt haben sich die Iranerinnen schon immer dagegen. Die erste Demonstration gegen die Islamische Republik war jene der Frauen am 8. März 1979 gegen den Verschleierungszwang. Damals standen ihnen die Männer nicht zur Seite. Die Revolution ist wichtiger, hieß es, sie sollten sich wegen des Stücks Stoff nicht so anstellen. Heute unterstützen sie die Frauen, wenn sie ihre Kopftücher verbrennen, wenn sie mit unbedeckten Haaren die Komplizen - und Komplizinnen - des Regimes anbrüllen, wenn sie auf Polizeiautos steigen und das Ende der Theokratie fordern.
Ein weiterer Grund für die Besonderheit dieses Protestes ist, dass Gruppen gemeinsam für den Systemsturz demonstrieren, die das Regime immerzu gegeneinander ausgespielt hat. So schürt es von jeher Ressentiments gegen Minderheiten als gefährliche Motoren für den Zusammenbruch des iranischen Vielvölkerstaates. Dass nun ausgerechnet der Tod einer jungen Kurdin diese Nation im Widerstand gegen ihre Geiselnehmer eint, ist bemerkenswert. Dass selbst die nationalistischsten Perser Amini bei ihrem kurdischen Rufnamen "Jina" (Leben) nennen, dass sie auf der Straße die Parole "Frau, Leben, Freiheit" auch auf Kurdisch, "Jin, Jiyan, Azadî", skandieren, zeigt eine noch nie dagewesene Solidarität und Geschlossenheit.
Das gilt es anzuerkennen. Auch wenn dieser Protest dem Skript aller bisherigen Proteste zu folgen scheint: die brutale Niederschlagung, die ersten Toten, die ersten inhaftierten Journalistinnen, Menschenrechtsaktivisten und politischen Führer und die Prognose, dass das erst der Anfang ist. Trotz alldem gibt es Grund zur Zuversicht. Die Bilder von Massen von Iranerinnen, die unverschleiert den öffentlichen Raum besetzen, die gemeinsam mit ihren Männern, Brüdern und Söhnen die bewaffneten Schergen des Regimes vereinzelt in die Flucht schlagen, die Jäger zum ersten Mal zu Gejagten machen, haben viele im Iran auf nie dagewesene Weise ermächtigt. "Das Regime wird fallen", sagt eine iranische Kollegin am Telefon, "aber wir machen uns keine Illusion, wir wissen, dass es weder jetzt sofort sein wird noch ohne ein Blutbad."
Wer in einer unfreien Gesellschaft lebt, kennt nicht nur jede auch noch so blasse Nuance von Veränderung, sondern auch ihren Preis.
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