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Was darf denn (nicht) gesagt werden?

Der Moment der Entgleisung ist klar auszumachen. Minute 34. Das ist der Zeitpunkt, den Moderator Yves Bossart bedauert. Das war nicht ok, was da sein Gast vor laufender Kamera an einem Sonntag Ende April von sich gegeben hat. In „Sternstunde Philosophie" im Schweizer Fernsehsender SRF wollte Bossart mit seinem Landsmann, dem Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Adolf Muschg, zum Thema „Lebenskunst" sprechen. Als er ihn fragte, ob in unserer Gesellschaft eine „Ambiguitätstoleranz" fehlen würde, der Sinn für Widersprüche, konterte Muschg mit der „Cancel Culture": „Ein falsches Wort und du hast den Stempel. Das ist im Grunde eine Form von Auschwitz. Man stempelt Leute ab und von da an kommen sie als Gesprächspartner nicht infrage." Bossart schweigt. Das Netz tobt. Muschg solle sich für seine Aussage schämen und der Moderator gleich mit ihm, dass er so etwas unwidersprochen stehen lasse. Bossart entschuldigt sich. Muschg nicht. Die Aufregung sei der „Kurzatmigkeit" der Medien geschuldet, die sich nur eine Passage aus einem Gespräch rauspicken würden, ohne die gesamte Stunde zur Kenntnis zu nehmen. Er bleibt dabei: „Cancel Culture ist eine Form von Auschwitz."

Also jetzt auch noch Auschwitz. Das ultimative Böse. Mehr Drohkulisse geht kaum. Seit Monaten arbeitet sich das deutschsprachige Feuilleton am Begriff der „Cancel Culture" ab. Es ist jene Praxis, die eine systematische Boykottierung und Annullierung einer Person vorsieht, die sich mit zweifelhaften oder vermeintlich zweifelhaften Aussagen Gehör verschafft hat. Die Konsequenz: die gesellschaftliche Ächtung, die Vertreibung aus der Öffentlichkeit durch Mobbing, Ausladungen oder gar Kündigung. Ein gefährliches Phänomen, das den Diskurs verengen würde, Streit verunmöglicht und letzten Endes als ein Angriff auf die Meinungsfreiheit und die Demokratie gewertet werden kann. Harte Geschütze werden in der Debatte aufgefahren, von Gleich- und Falschdenk ist dann die Rede, von Meinungsdiktatur, Hexenjagd und Zensur. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht ein Essayist, ein Altpolitiker, ein Intellektueller - und ja, es sind zumeist Männer - das Ende des zivilisierten Abendlandes prophezeit, wenn dieser unsägliche Trend, der jenseits des Atlantiks auf amerikanischen Universitäten, in Redaktionen und Kulturinstitutionen wütet, auch in Europa erste Spuren hinterlässt. Dann etwa, wenn Professoren sich nicht mehr trauen würden, ihre Studierenden mit „Herr" oder „Frau", sondern nur als „Mensch" anzusprechen, aus Angst als genderunsensible Betonköpfe an den digitalen Pranger gestellt zu werden; wenn Gäste von Podien ausgeladen werden, weil sich die anderen Teilnehmerinnen von ihnen distanzieren wollen; wenn Verlage Gedichte von einem „diversen" Kollektiv übersetzen lassen, aus Sorge, nicht „woke" genug dazustehen, den Zeitgeist nicht entsprechend zu würdigen, wenn sie die ewig Gleichen mit dem Job beauftragen würden.

Was darf denn nicht mehr gesagt werden?

„Wir können nicht mehr frei und ungehemmt sprechen, ohne dass die Reaktion heftig ist, dass wir beschimpft und verdächtigt werden, Reaktionäre zu sein, nämlich nicht nur Konservative, sondern Reaktionäre, Rassisten und homophob", klagt der SPD-Politiker und ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in Fernsehinterviews, nachdem er für seine Kommentare in der FAZ und der Zeit zum Thema Identitätspolitik kritisiert wurde. Darin sagt er etwa, dass er zum Symbol geworden sei für viele „normale Menschen", die ihre Lebensrealität nicht widergespiegelt sehen in seiner Partei, der SPD, und „die unsicher sind, was sie sagen dürfen und wie sie es sagen dürfen".

Was darf denn nicht mehr gesagt werden? Jene, die vermeintlich nicht mehr dürfen, tun es unentwegt. Ob in Gastkommentaren, Fernsehsendungen, Podcasts oder ihren sozialen Kanälen. Thierse tut es. Lisa Eckhart tut es. Dieter Nuhr tut es. Allesamt Persönlichkeiten, die in den vergangenen Monaten angeblich zu Personae non gratae einer tollwütigen Cancel Culture und irregeleiteten Identitätspolitik erklärt wurden. Ganz prominent können sie laut darüber nachdenken, ob es Sprech- und Denkverbote gibt, und das zur besten Sendezeit. Die Maulkörbe dürften schon sehr locker sitzen, die sie so stark in ihrer Meinungsfreiheit beschneiden würden.

Ist das Problem nicht viel eher, dass das Gesagte nicht kommentarlos hingenommen wird? Keine Person, auch keine Person des öffentlichen Lebens, muss es aushalten müssen, für ihre Aussagen beschimpft, belästigt und bedroht zu werden. Doch ist jede Kritik gleich ein Angriff auf die Meinungsfreiheit oder ist sie vielleicht am Ende genau das: Meinungsfreiheit? Meinungsfreiheit findet nicht in einem machtleeren Raum statt. Die Prämisse, ungehemmt sprechen zu dürfen, ungeachtet der Sprechposition, galt nie für alle. „Die Debatten, um die es geht, werden eben nicht einfach als Kämpfe unter Gleichrangigen um das bessere Argument ausgetragen. Sie transportieren selbst gesellschaftliche Schieflagen mit", hat es die Soziologin Franziska Schutzbach einmal formuliert. Die Diskursräume, die sich nun angeblich verschließen würden, hatten nie eine Open Door Policy, sie waren eher ein VIP-Club.

Das beginnt sich zu ändern. Langsam, aber stetig bekommen immer mehr Zugang zu diesem Club. Und genau das irritiert viele. Ausgerechnet jetzt, wo doch so viele eintreten dürfen, scheint die Welt am ungerechtesten zu sein. Was ist da los? Tocqueville-Paradoxon heißt das Phänomen, das die deutsche Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan zur Erklärung heranzieht. Es geht davon aus, dass Auseinandersetzungen nicht im Moment der größten Unterdrückung und Ungleichheit stattfinden, sondern dann, wenn bereits der erste Fortschritt bemerkbar ist. Denn nur dann können auch die Unterdrückten überhaupt das Wort ergreifen, sich wehren, Forderungen stellen und all das sichtbar machen, das bis dahin unter den Teppich gekehrt wurde. Wenn die Teilhabe am größten ist, wirkt auch der Schrei nach Gerechtigkeit am lautesten. Weil er zum ersten Mal gehört wird.

Daher bebt die Erde, wie es der Autor Bernd Ulrich in seinem Buch „Guten Morgen, Abendland" erklärt: „Die Stabilität von Staaten und Religionen beruht, das zeigt sich jetzt in aller Einfachheit und Klarheit, nicht in erster Linie auf Institutionen, nicht mal auf Macht und Gewalt, sondern auf etwas anderem: auf der Demut der Gedemütigten. Und damit geht es nun zu Ende, diese Ressource ist fast völlig aufgebraucht", schreibt er.

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Auf wie viel Demut ganze Systeme aufbauen, ist den wenigsten klar. In Nebensätzen werden sie dieser Tage in den großen Essays kurz abgehandelt. Etwa, dass es schon verständlich sei, dass marginalisierte Gruppen auf ihre Benachteiligungen hinweisen und dagegen ankämpfen. Auch wird ihnen passagenweise zugestanden, dass sie durchaus die Gerechtigkeit verdient haben, die sie einfordern. Aber immer mit dem Zusatz, wenn sie das tun, dann bitte nicht in dieser Unversöhnlichkeit. „Sie müssen ihre Wut und ihre Verzweiflung konsumierbar und möglichst harmlos formulieren, sonst droht ihnen, abgewehrt oder belächelt zu werden", schreibt die Autorin Asal Dardan in ihrem Buch „Betrachtungen einer Barbarin". Das Pathos der Gedemütigten muss in kleinen Häppchen serviert werden, leicht verdaulich für eine Gesellschaft, die viel Wert auf „Streitkultur" legt, aber nur dann, wenn die eigene privilegierte Positionierung nicht zum Thema gemacht wird. Es ist schon recht, wenn Personen darauf bestehen, als jenes Geschlecht angesprochen zu werden, als das sie sich identifizieren, und es ist auch legitim, wenn man andere zurechtweist, doch bitte nicht das N-Wort zu benutzen. Aber bloß nicht dabei über das Ziel hinausschießen.

Was als verhältnismäßig gilt, und was nicht, obliegt immer noch jenen, die bislang die Diskursräume dominiert haben. Ist es denn notwendig, immer und immer wieder auf das rassistische Profiling der Polizei hinzuweisen? Straßennamen streichen zu wollen? Denkmäler zu stürzen, die Kolonialherren und Antisemiten auf den Sockel gestellt haben? „Nichts ist leichter, als eine Grenzüberschreitung zu verzeihen, die einem anderen zugefügt wurde", schreibt die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal in einem Gastkommentar in der FAZ.

Welche Grenzüberschreitungen wir als Gesellschaft zulassen, ist die eigentliche Frage, die im Zentrum dieser Debatte stehen müsste. Wo ziehen wir die rote Linie? Gibt es einen kollektiven Konsens?

Nein, den gibt es nicht. In Deutschland veranschaulicht der öffentlich- rechtliche ARD-Sender Westdeutscher Rundfunk (WDR), wie sehr Institutionen um diesen Konsens ringen - und dabei scheitern. Im Dezember 2019 veröffentlichte der Sender auf einem seiner Facebook-Kanäle als Statement zur Klimakrise ein Video. Darin parodiert ein Kinderchor den Klassiker „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad". Im Refrain heißt es: „Meine Oma ist 'ne alte Umweltsau." Der Shitstorm folgte auf dem Fuß. Vor allem rechte Netzwerke nutzten das Video, um gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk mobilzumachen.

Bilder von WDR-Mitarbeitern kursierten in den sozialen Netzwerken wie Zielscheiben, ihnen wurde vorgeworfen, dass sie schuld daran seien, dass der „Respekt vor einer ganzen Generation" abhandengekommen sei. Der WDR löschte das Video umgehend von all seinen Plattformen, der Intendant rückte aus, entschuldigte sich in Sondersendungen, Fehler gemacht und Gefühle verletzt zu haben.

Ein paar Monate später war der WDR wieder in den Schlagzeilen. Dieses Mal ging es um einen Auftritt der österreichischen Kabarettistin Lisa Eckhart in der WDR-Satiresendung „Mitternachtsspitzen" aus dem Jahr 2018. Der WDR hat das Video auf seinen Social-Media-Kanälen erneut gepostet. Darin spricht Eckhart über Woody Allen, Harvey Weinstein, den Umgang mit ihnen und Missbrauchsvorwürfen und bedient dabei antisemitische Klischees. Wieder ein Shitstorm. Dieses Mal melden sich jüdische Organisationen, Deutschlands Antisemitismus-Beauftragte und Grünen-Politikerinnen zu Wort. Das Video wurde nicht vom Netz genommen. Keine Mea-Culpa-Tour des Intendanten. Eckharts Beitrag sei „schonungslos" und „entlarvend" und „essenzieller Teil der Meinungsvielfalt", so die Begründung.

Zwei Shitstorms, zwei Kontroversen, zwei Arten, darauf zu reagieren. Beides legitim. Und ebenso die Kritik daran. Doch es wird offensichtlich, wessen Schmerzgrenze respektiert wird und wessen überschritten werden darf. Dass es, wie Schutzbach geschrieben hat, eben kein Messen unter Gleichrangigen ist. Es gibt eine Hierarchie, ein Oben und ein Unten, das nur die größten Zyniker mit „Leistungsunterschieden" rechtfertigen.

Wer wird noch einmal gecancelt?

Jede Klage über „Cancel Culture" und eine Verengung des freien Diskurses kann nur dann ernst genommen werden, wenn sie sich selbst ernst nimmt, indem sie aufhört, mit zweierlei Maß zu messen. Wenn sie nicht nur dann zum empörten Crescendo ansetzt, wenn jene „gecancelt" werden, die bislang die Räume der Macht und Meinungsmache okkupieren durften, und das vollkommen hemmungslos, sondern auch dann, wenn es um jene geht, die seit ihrer Geburt aus diesen Räumen ausgeschlossen wurden. Und wenn schon Woche um Woche in Dauerschleife von „Canceln", dem „Löschen", die Rede ist, wäre es unter Umständen angebracht, zu präzisieren, was es denn tatsächlich heißt, „gelöscht" zu werden. Ganz real. Im Wochentakt veröffentlichen deutsche Tageszeitungen Berichte von rechtsextremen Netzwerken, die den Systemsturz planen, Munition und Waffen bunkern, Todeslisten von Andersdenkenden anlegen und dafür schon einmal Leichensäcke besorgen - und ja, auch Löschkalk.

Hier wird ganz konkret geplant, zu canceln. Wie sehr würde das denn den Diskurs verengen? Wäre der Streitkultur abträglich? Vielleicht lässt es sich doch hin und wieder in Gastkommentaren, Sondersendungen und Feuilletonspalten einrichten, den Blick in dieser Debatte zu erweitern. Und sich in Erinnerung zu rufen, welcher Löschakt eine Demokratie tatsächlich gefährdet - und zwar unmittelbar.

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