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Ekaterina Degot: Agente provocatrice

"Der Blitz soll dich beim Scheissen treffen", ließ ein User in einem Facebook-Kommentar Ekaterina Degot wissen. Es war die heftigste Reaktion, die sie in Österreich bisher mit ihrer Arbeit provozierte. Degot zuckt mit den Schultern. Eine Petitesse für die 61-Jährige. "Ich komme aus Russland, ich bin Schlimmeres gewohnt", sagt sie und lehnt sich in den Ohrensessel zurück.


Degot ist Kuratorin, Kunsthistorikerin und -kritikerin - und seit 2018 Intendantin des Steirischen Herbstes, des interdisziplinären Festivals für zeitgenössische Kunst, das an diesem Donnerstag in seine 52. Ausgabe geht. Unter dem Motto "Volksfronten" startete Degot vergangenes Jahr ihre Intendanz und stieß bei der Kritik auf viel Wohlwollen. Auch die Einheimischen konnten sich mit dem ehrgeizigen Parcours der neuen Intendantin anfreunden - nur mit einem Projekt hatten viele ihre Probleme: dem schwarzen Abfallcontainer für Nazi-Relikte. Mitten auf dem Grazer Hauptplatz gab der japanische Performancekünstler Yoshinori Niwa der autochthonen Bevölkerung die Möglichkeit, Opas alte Nazi-Uniform zu entsorgen. Einigen ging das zu weit. Sie beschimpften Künstler und Intendantin, inklusive Blitzschlagtodesflüchen auf der Toilette.

Ein Jahr später schmunzelt Degot immer noch über die originelle Verwünschungsformel. Es ist Dienstagabend, sie sitzt vor kreisrund geschnittenen Toasthäppchen in der Grand Etage im achten Stock des Hotels Grand Ferdinand am Wiener Stubenring. Normalerweise haben hier nur Hotelgäste und "Private Club Mitglieder" Zugang. Degot blickt sich um. Es ist kein Ort, an dem sie sich in der Regel aufhalten, gar wohlfühlen würde. Aber für den Anlass könnte er nicht passender sein. Opulent, dekadent und ein Hauch Fin de Siècle, genau die richtige Kulisse, um ihr aktuelles Programm für den Steirischen Herbst vorzustellen: Grand Hotel Abyss - Grand Hotel Abgrund.

Inspiriert hat das Motto ein Text des ungarischen Philosophen Georg Lukács, der in den Dreißgerjahren das Lebensgefühl europäischer Intellektueller vor dem heraufziehenden Faschismus beschrieb. Degot wähnt sich in einem ähnlichen Moment, einer Art hedonistischer Apokalypse, der ihresgleichen in einer Mischung aus Angstlust und Nihilismus entgegenfeiern. Die Welt steuert auf ihr Ende zu, und Europas Intelligenzija weiß sich nicht anders zu helfen, als sich in eine Party zu stürzen. Carpe diem in Exzess.

Auch dieses Jahr wird sie Leute vor den Kopf stoßen, das weiß Degot. Das hat Tradition in der Geschichte des Festivals. 1975 waren es die Nackten in Wolfgang Bauers Stück Gespenster, 1981 Hermann Nitschs Aktionskunst, 1988 Hans Haackes Siegessäule, die gar von Rechtsextremen angezündet wurde.

Degot bleibt dieser Tradition treu. Dieses Jahr vermutet sie den größten Unmut über Eduard Freudmanns Installation Monumyth am Befreiungsdenkmal im Grazer Stadtpark. Degots Augen leuchten. Das tun sie immer, wenn sie nicht über sich selbst, sondern über Kunst sprechen kann. "Das Denkmal gedenkt nicht der Befreiung von den Nazis, es gedenkt der Befreiung von den Befreiern", erklärt sie.


Das könnte mehr als nur einen Online-Kommentar provozieren. Vielleicht aber auch nicht: Noch seien ihr die roten Linien in Österreich nicht vertraut, gesteht Degot. Sie müsse noch lernen, wo die offenen Wunden in Österreich seien. Und wann sie den Salzstreuer auspacken könne, um die maximale Reaktion zu bekommen.

In Russland weiß sie das genau. Geboren und aufgewachsen in Moskau, in der damaligen Sowjetunion, als Tochter zweier Ingenieure in einem säkular jüdischen Haushalt, war sie früh geschult darin, dem System zu misstrauen und ihr "inneres Dissidententum", wie sie es nennt, zu pflegen. "Seit dem Kindergarten wusste ich, dass die Welt da draußen feindlich ist und ich einen Weg finden muss, um mir selbst in ihr treu zu bleiben." Subtil war sie dabei nicht immer. Schon mit zehn Jahren legte sie sich mit der Schuldirektorin an, weil sie Partei ergriffen hatte für einen Mitschüler. Die Direktorin war entsetzt. Bestraft wurde Degot nicht, zu gut war die Musterschülerin.

Das Verlangen, Widerstand zu leisten, liegt in der Familie. Ihr Großonkel, Vladimir Degot, ein berühmter Bolschewik und Weggefährte Lenins, fiel in Ungnade und starb 1937 in einem Gulag. Vor Kurzem bekam Degot Einsicht in seine Akte, in der vermerkt wurde, wie Genosse Degot den Verhörbeamten verprügelte. "Ich habe den Familiencharakter da gut erkannt", erzählt sie und lächelt.

Ekaterina Degot fand andere, kreativere Wege, diesem Familiencharakter gerecht zu werden. Angst um ihr Leben hatte sie dabei nie. "Früher war ich zu unwichtig, und jetzt bin ich zu alt", erklärt sie ihre Gelassenheit.

Nach ihrem Studium der Kunstgeschichte arbeitete sie als Museumsführerin, unter anderem in der berühmten Moskauer Tretjakow-Galerie. Degot leistete Widerstand auf ihre Art, indem sie etwa die Besucher mit dem damals verfemten Modernismus vertraut machte. Mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 musste Degot ihren Kompass neu ausrichten. Ihr inneres Dissidententum kehrte sich zunehmend nach außen. So zählte Degot als profilierte Kunstkritikerin zu den ersten öffentlichen Stimmen Ende der Neunzigerjahre, die den Hype um den neuen starken Mann des Landes, Wladimir Putin, verurteilten. Unerklärlich war es für sie, wie sich Kultur und Medien für seine Zwecke instrumentalisieren ließen.

2014 sorgte sie in ihrem Heimatland endgültig für Furore. Nach Russlands Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim entschuldigte sich Degot in einem offenen Brief bei ihren ukrainischen Kollegen für die eigene Lethargie: "Ich möchte euch alle um Verzeihung bitten, dass wir in Russland nicht entschieden genug vorgegangen sind und jenes Regime Putins, das euch heute bedroht, nicht zerstören konnten", schrieb sie.

Dass Putin im Westen sowohl von links von Antiamerikanisten als auch von rechts hofiert wird, irritiert Degot. Allein in Österreich war er schon sieben Mal zu Besuch, mitsamt Kosakenchor und kniender Außenministerin. "Ich bin sehr enttäuscht", sagt sie und schüttelt den Kopf.

Von Weitem sah der Westen perfekt aus

Einen Tag nach dem Empfang in Wien ist Degot wieder an ihrem Arbeitsplatz im Palais Attems, einem barocken Stadtschloss in der Grazer Innenstadt. Junge Frauen und Männer im Alter ihrer Tochter, einer Theaterschauspielerin in Moskau, wuseln umher und bereiten das Haus vor für die Festivaleröffnung. Nachdenklich betrachtet Degot bei einem Rundgang die Decke im zweiten Stock: dicke pausbäckige Kinder, die ihre Gesichter in fleischige Frauenschultern vergraben.

Seit 2014 lebt Degot im Ausland. Zuerst in Köln, wo sie bis 2018 die Leitung der Akademie der Künste der Welt innehatte, nun in Graz. Sie fühlt sich wohl hier, im vierten Bezirk, im Lend, dem Ghetto, wie es einige nennen, wegen der vielen Ausländer. Sie mag es, ihr Ghetto, echter sei es, normaler, und allemal befreiender als Köln, wo man sie wegen ihres osteuropäischen Akzents immer so schief ansah, sich gar weigerte, ihr eine Wohnung zu vermieten, weil man bei einer Russin ja nie wissen würde, ob sie auch sauber genug sei.

Lange hat Degot als junge Frau den Westen idealisiert. Von Weitem, aus den verbotenen Büchern und Filmen heraus, sah er perfekt aus. Aus der Nähe weniger. Sie vermisst die subversive Solidarität ihrer Heimat. In Russland vertraue niemand der Obrigkeit. Das mache die Leute wachsamer und fördere unabhängiges Denken, sagt Degot. Im Westen sei das anders. Das System erlaube es den Bürgern, dem Staat zu vertrauen, sich von ihm beschützt zu fühlen. Eine gute Sache, eigentlich. "Manchmal sehe ich, dass sich die Menschen in Deutschland und Österreich automatisch auf die Seite der Obrigkeit stellen, ohne sie zu hinterfragen", sagt aber Degot. "Das weckt in mir beunruhigende Vergleiche mit den Dreißigerjahren, als auch die Regeln gehorsam befolgt wurden."

In Köln hatte sie diesen kollektiven Gehorsam öffentlich kritisiert. 2016 wurde sie gebeten, als eine von 19 Prominenten die Kölner Botschaft zu unterzeichnen, eine Stellungnahme zu den Übergriffen am Hauptbahnhof in der Silvesternacht. Degot konnte nicht. In einer Replik erklärte sie, warum. Ihr widerstrebte der lokalpatriotische, kleinkarierte Sukkus der Botschaft, der nicht zu Zivilcourage und kritischem Denken aufrief, sondern zu "Gehorsam und Kritiklosigkeit im Austausch gegen Sicherheit", wie sie schrieb.

Es hagelte Kritik. Die "privilegierte Russin" soll sich ihr Gelaber verkneifen, hieß es in empörten Leserbriefen. Degot verzieht das Gesicht. "Ich glaube, dass ich es mir mit einigen in Köln damit verscherzt habe", sagt sie leise.

Aber sie konnte nicht anders. Die innere Dissidentin war zu laut. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie auch in Österreich loslegt.


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