In Österreich gibt es einen Ort, in dem einmal im Jahr nachgedacht wird: das Bergdorf Alpbach. Hier versuchen Intellektuelle einen Sommer lang, die Welt zu retten – bis die Elite aufkreuzt.
Text: Solmaz Khorsand
975 Meter über dem Meeresspiegel liegt Österreichs «safe space». Auf dieser Höhe traut man sich seit 73 Jahren, den Mund aufzumachen. Hier, in den Kitzbüheler Alpen, findet jeden Sommer siebzehn Tage lang das Europäische Forum Alpbach statt.
Alpbach hat viele Spitznamen. Als «Davos für Nette» wird der Kongress bezeichnet, als «Summersplash für Erwachsene», als «Ferienlager für Elitekinder». Ursprünglich hatten sich hier nach dem Zweiten Weltkrieg Österreichs hellste Köpfe aus allen Disziplinen getroffen. Sie wollten den Geist eines vereinten Europas beschwören. Ohne Maulkorb, ohne Denkverbote, ohne Hemmungen. Sie philosophierten, stritten und betranken sich in dem kleinen Bergdorf für eine bessere Welt. Zu den Teilnehmern gehörten anfangs vor allem junge Menschen aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Das Forum war ihre Oase. Es war der Gegenentwurf zu den Scheuklappen Österreichs. Auch heuer will es das sein, in einer Zeit, in der Österreich unter dem Motto «ein Europa, das schützt» den EU-Ratsvorsitz innehat.
5300 Menschen sind dieses Jahr nach Alpbach gekommen, in das Dorf mit den 2300 Einwohnern, den schmucken Holzhäuschen und den grünen Almen. Unter den Gästen: knapp 700 eingeladene Studenten aus 92 Ländern. Sie, wird betont, sind das Herzstück des Forums. Sie sollen hier in Seminaren lernen, sich austauschen und Kontakte knüpfen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen, so das Mantra.
Das ist die eine Seite von Alpbach.
Die Utopie.
Die andere Seite zeigt sich nach der ersten Woche, wenn die Seminare der Studenten ihren Ausklang finden. Dann starten die Panels zu Gesundheit, Technologie, Politik, Wirtschaft und Finanzen.
Dann wird aus dem Dorf der Denker über Nacht das Dorf des österreichischen Klüngels.
Die Realität.
Alles, was Rang und Namen hat oder gerne hätte, tanzt hier an. Präsidenten, Ministerinnen, Chefredaktoren, Grossindustrielle, Generäle. Und ihre Entourage. Keiner lässt sich das alljährliche Schaulaufen nehmen. Die Profis geben den Takt an, die Anfänger stolpern nach. Am Ende tanzen sie alle den Walzer unter Freunden oder, wie man hier sagt, den Walzer der «Verhaberung». Ihr Parkett sind die 200 Meter zwischen Kongresszentrum und Absturzkaschemme Jakober. Auf diesen 200 Metern offenbart sich Österreich.
Für Karl Kraus eine ideale Kulisse. 1922 hat der Autor seinen Landsleuten den Spiegel vorgehalten. In seinem Untergangsdrama «Die letzten Tage der Menschheit» rekapituliert er in 220 losen Szenen den Ersten Weltkrieg. Bissig und resignierend zieht er alle für die Katastrophe zur Verantwortung: die geltungssüchtige Elite, die kriegsgeilen Medien und die ignoranten Zivilisten. Das Europäische Forum Alpbach hat Kraus’ Monumentalwerk dieses Jahr einen Schwerpunkt gewidmet.
Wäre er noch am Leben, hätte sein Epos in Alpbach eine Fortsetzung gefunden. In den folgenden zwölf Szenen etwa.
I. Europas Patriotin
«Kommt euer Präsident? Eigentlich bin ich nur seinetwegen da», sagt Rongkun. Sie hätte ausschlafen können. Heute ist Sonntag, und die Seminare starten erst um 11 Uhr, nicht um 9.30 Uhr wie in den vergangenen vier Tagen. Rongkun gähnt. Es ist 10 Uhr, und die chinesische Linguistikstudentin steht in der prallen Sonne auf dem Dorfplatz. Um sie herum Männer in Tracht, Frauen im Dirndl. Selbst ihre Kolleginnen haben sich ins alpine Korsett gezwängt. Rongkun steht verschlafen da mit ausgewaschenen Jeans und weiter, gestreifter Bluse. Sie schaut auf die Bühne. Die Sonne blendet sie. Es ist Zeit, den Schirm aufzuspannen. Sie weiss, sie sieht aus wie ein Klischee. Eine zierliche Chinesin mit Kamera und Regenschirm in einem europäischen Bergdorf. Egal.
Hinter die Tiroler Schützen hat sie sich platziert. Sie mustert die Männer mit der ledrigen Haut, den weissen Stützstrümpfen und den kunstvollen Hüten, die drapiert sind mit Federn, Blumen und Borsten und aussehen, als hätte alles, was bisher im Leben seines Trägers erlegt wurde, auf den wenigen Zentimetern Filzstoff verewigt werden müssen.
Die Schützen sind das Highlight des «Tiroltages», der offiziellen Eröffnung des Europäischen Forums Alpbach. Zweimal schiessen sie am Dorfplatz in die Luft, dann marschieren die Gäste hinauf zum Kongresszentrum. So will es der Brauch.Vor ein paar Tagen fand schon einmal eine «offizielle» Eröffnung statt. Da hat Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz im grossen Saal des Kongresszentrums eine Rede zur Welt gehalten. Den Geist von Alpbach konnte das nicht entfesseln. Das gelingt nur Tiroler Schützen.
Rongkun stöhnt. Sie erkennt niemanden der Gäste. Vorne bei der Kirche, beim kleinen Abstellhäuschen, haben sich alle Persönlichkeiten auf der provisorischen Bühne aufgefädelt. Der Bischof, der Bürgermeister, die Landeshauptleute aus Tirol, Südtirol und dem Trentino und der Präsident des Forums. Den erkennt sie, den hat sie schon einmal gesehen, «Santa Claus» nennen ihn einige Studenten.
Rongkun ist enttäuscht. Kein österreichischer Bundespräsident. Dafür Reden in Sprachen, die sie nicht versteht. Das Wort Europa fällt immer wieder. Auch die Worte Resilienz und Diversität. Das kriegt sie noch mit, sind es doch die Themen des diesjährigen Forums. Den Teil von der offenen Gesellschaft, Tirols Energieautonomie bis 2050 und einem Europa der Kompromisse versteht sie schon nicht mehr.
Nach einer Stunde ist die Show vorbei.
Es folgt der Einsatz der Blasmusikkapelle.
Die Musiker stimmen die Tiroler Landeshymne an.
Die Politiker singen mit.
Danach folgt die österreichische Nationalhymne.
Die Politiker bewegen ihre Lippen.
Zum Schluss kommt die Europahymne.
Die Lippen der Politiker bleiben verschlossen.
Rongkun jauchzt. Sie erkennt Beethovens Neunte, «Ode an die Freude». Leise singt sie zur Melodie. Europas Hymne beseelt die Chinesin.
Immerhin eine.
II. Jurassic Park
Erhard Busek zittert mit seinem Stock durch das Foyer des Kongresszentrums. Heute war die offizielle Eröffnung des Forums. Die Tiroler Schützen haben zweimal in die Luft geschossen, die Landesfürsten Marillenschnaps getrunken, und jetzt sind sie alle hier, um bei Weisswurst und Brezeln den europäischen Gedanken zu zelebrieren.
Erhard Busek durchforstet den Raum nach bekannten Gesichtern. Er strahlt wie ein Junge vor dem Ausblasen der Kerzen auf der Geburtstagsfeier.
Busek war einmal Chef des Forums Alpbach. Er war auch Österreichs Wissenschaftsminister, Vizekanzler und Obmann der konservativen ÖVP. Kurz: Er war einmal wer in Österreich.
Heute ist er 77 Jahre alt. Und ihn sucht keiner mehr. Keine Journalistin sucht das Hintergrundgespräch mit ihm, kein Parteikollege seinen Rat, kein Student seine Aura. Erhard Busek hat sein politisches Ablaufdatum längst erreicht. Nirgendwo sonst wird das sichtbarer als in Alpbach.
Während Österreichs ehemaliger Präsident Heinz Fischer und der ehemalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon wie Maskottchen auf Empfängen von Selfie zu Selfie dackeln, fristet der Rest der Politprominenz a. D. ein Dasein am Ende der Buffetschlange.
Caspar Einem, der ehemalige Innen- und Verkehrsminister und SPÖ-Vorzeigeintellektuelle, musste am Eingang die Frage einer jungen Rezeptionistin nach «Teilnehmer oder Besucher» mit «Vizepräsident des Forums» beantworten, um seinen Badge zu bekommen.
Karel Schwarzenberg, der ehemalige tschechische Aussenminister, wandert verwaist durch die Eingangshalle, auf der Suche nach jemandem, der ihn in den Hauptsaal bringt, wo er als Juror der «Speaker’s Night» rhetorische Talente küren soll. Er, der 80-Jährige, der kaum noch hört.
Zu stören scheint sie ihr Schattendasein nicht, zumindest jenseits der siebzig nehmen sie es gelassen. Die etwas jüngeren Auslaufmodelle dürsten noch nach der einstigen Aufmerksamkeit. Sie wollen noch einmal die Litanei ihres Lebens abspielen, all die Brutus-Momente in ihrer Partei rekonstruieren und ihre Legacy zurechtrücken.
Sie fürchten, dass der eine Fauxpas, die eine Spitze, das eine Foto das Einzige ist, was von ihrer Karriere übrig bleibt.
Doch was sie viel mehr fürchten, ist, dass am Ende noch nicht einmal das übrig bleibt und dass auch sie eines Tages durch das Foyer des Forums Alpbach zittern und sie keiner mehr anspricht.
III. Alpbachs Held
«Sie haben meine Frage nicht beantwortet», sagt Miroslav laut. Er steht am Türeingang des Seminars für «Ethics in Action: Economics and Sustainable Development». Der Raum im Erdgeschoss der Hauptschule ist voll belegt, inklusive Fussboden und Fensterbank. Auf den Flur dampft der Schweiss der knapp hundert Studenten heraus. Ihre Körper dünsten das Bier und die Käsespätzle der Vortage aus.
«Beantworten Sie meine Frage!», fordert Miroslav den Vortragenden noch einmal auf. «Ihre Meinung ist valide, aber ihr Argument stimmt einfach nicht», kontert Anthony Annett bestimmt. Für ihn ist die Diskussion beendet. Seit einer Stunde referiert der Amerikaner über die verkannte christliche Soziallehre und bricht eine Lanze für Geldleistungen an sozial Schwache. Wer sie finanziell unterstütze, tue auch dem Allgemeinwohl etwas Gutes, da sie das Geld für eine Verbesserung ihrer Lebensumstände nutzen würden.
https://www.republik.ch/2018/09/25/die-vorletzten-tage-der-menschheit