Wien. "Missgeburten", nuschelt Jiro. Angespannt steht der 19-jährige Kurde mitten auf der Mariahilfer Straße. Er beobachtet die türkischen Jugendlichen vor den Cafés und Geschäften, wie sie ihre Smartphones zücken, um ihn und seine Mitstreiter zu filmen. "Sie veröffentlichen die Fotos und suchen dann nach uns", zischt Jiro. "Terroristen", brüllen die Jugendlichen. Jiro muss sich zurückhalten. "Die wollen nur provozieren", presst er wütend hervor, "diese Faschisten."
Türken und Kurden. Oder besser: Türken gegen Kurden. Seit ein paar Wochen gilt die Losung wieder auf Österreichs Straßen, so auch am vergangenen Freitagabend auf der Mariahilfer Straße. Der kurdische Dachverband "Feykom" hat zum Protest geladen. Knapp 400 Männer und Frauen sind gekommen. Sie marschieren gegen den "Mörder Erdogan", gegen die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei und gegen die Inhaftierung von Abdullah Öcalan, dem Führer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Eigentlich haben sie Übung im Protest, tun sie es doch Woche für Woche. Sie brüllen ihre Forderungen, schwenken ihre Fahnen und ziehen drei Stunden lang unter den Blicken irritierter Passanten durch die Straßen. Friedlich gesittet, fast schon langweilig. Doch dieses Mal ist die Stimmung angespannt. Nervös halten die Anwesenden Ausschau nach potenziellen Störenfrieden. Zu viel ist in den vergangenen Tagen passiert, als dass man nun unbeschwert auf der Mariahilfer Straße seinem Demonstrationsrecht frönen könnte. An jeder Ecke lauert eine Provokation, eine Geste, eine Beleidung, gar ein Angriff.
Seit Ende Juni häufen sich in ganz Österreich die Zusammenstöße zwischen nationalistischen Türken und kurdischen PKK-Sympathisanten. In Linz wurden kurdische Aktivisten bei einer Kundgebung attackiert, eine Frau wurde dabei mit einer Glasflasche verletzt. In Wien besetzten kurdische Jugendliche ein türkisches Tourismusbüro in der Singerstraße im 1. Bezirk. Ein paar Tage darauf beschmierten Unbekannte ein kurdisches Vereinslokal mit Parolen der rechtsextremen "Grauen Wölfe." Auch österreichische Einrichtungen blieben von den Konfrontationen nicht verschont. So wurde in der Nacht vom 26. Juni die Fassade eines KPÖ-Lokals im 14. Bezirk ebenfalls mit Symbolen der Grauen Wölfe beschmiert.
Es ist nicht das erste Mal, das sich der Konflikt in der Türkei auch in der Diaspora-Community widerspiegelt. Schon in den 90er Jahren war das der Fall, als sich türkische und kurdische Jugendliche auf Österreichs Straßen offen bekriegten. Nun scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Seit dem Ende des Friedensprozesses zwischen der türkischen AKP-Regierung und der PKK im Sommer 2015 hat sich der Konflikt wieder verschärft. Auch im Ausland. Jeder Angriff, jede Attacke, jede Vergeltung ist gespeichert im kollektiven Gedächtnis. Und das auch 2000 Kilometer weit weg vom Geschehen.
Auch am vergangenen Freitag kam es wieder zu Zwischenfällen. Gleich zu Beginn der Kundgebung kam es auf der Höhe des Christian-Broda-Platzes bei der U-Bahnstation Westbahnhof zu einem Gerangel zwischen türkischen und kurdischen Jugendlichen. Wenige Minuten später ein paar hundert Meter weiter auf der Höhe der Ersterhazygasse, gleich noch einmal. Mit Mühe drängten sich die Polizisten zwischen die aufgebrachten Halbstarken.
"Wir versuchen unsere Jugendlichen ruhig zu halten", sagt Richard Berger, "aber wir können sie nicht immer kontrollieren". Der Taxiunternehmer ist Ko-Vorsitzender der Feykom, dem Rat der kurdischen Gesellschaft. Die kurdische Dachorganisation betreibt seit 24 Jahren Lobbyarbeit für den kurdischen Freiheitskampf in Österreich. Knapp 40.000 Kurden in ganz Österreich stehen mit der Organisation in Kontakt, erzählt Berger. 1993 kam der einstige Literaturstudent nach Österreich, 2001 bekam er die Staatsbürgerschaft, seither heißt Richard Berger auch Richard Berger- wegen Integrationsgründen, sagt er. Seit zweieinhalb Jahren ist der Mittfünfziger Ko-Vorsitzender von Feykom.
Offen sympathisieren Feykom-Anhänger mit den Zielen der PKK, die in der Türkei verboten ist und dort sowie in der EU und den USA auf der Terrorliste steht. Die PKK kämpfte seit 1984 mit Waffengewalt und Anschlägen für ein freies Kurdistan. Heute ist sie in ihren Freiheitsbestrebungen bescheidener geworden und wünscht sich lediglich eine Art Autonomie in den bestehenden Landesgrenzen.
"Wir werden euch umbringen"
Früher war der Kampf militanter, meint Berger, auch in Wien, war doch die PKK eine andere. Heute geht es gesitteter zu. Man hat andere Ziele. Der Mittfünfziger sitzt im Vereinslokal in der Jurekgasse im 15. Bezirk. Alte Männer trinken hier Tee und schauen kurdische Fernsehsender. Im Hintergrund hängen zahlreiche Bilder mit Öcalans Konterfei. Die vergangenen Wochen haben hier ihre Spuren hinterlassen. Erst neulich hat Berger Teile der Fassade neu streichen müssen, um die Sprüche "Wir werden euch umbringen" zu verdecken.
Jiro ist wütend. Der bullige HTL-Schüler gehört zur jungen Generation der Feykom-Aktivisten. In den vergangenen Wochen hat Jiro mit seinen Freunden im Verein die Stellung gehalten, hat hier gar übernachtet. Es gilt Präsenz zu zeigen vor "den Faschisten", die Nacht für Nacht vor dem Vereinslokal in ihren Autos ihre Runden drehen würden. Unter türkischen Jugendlichen hätte es sich regelrecht zu einem Volkssport entwickelt, den Kurden in der Jurekgasse einen Besuch abzustatten. Ob nach der Hochzeit, nach der Party, nach dem Ramadanessen, für einen kurzen Abstecher sei immer Zeit. Mal werden dann Steine geworfen, mal Wände beschmiert, in einigen Fällen, dem einen oder andere Jugendlichen auch aufgelauert, erzählt Jiro. Noch würden sie sich ruhig verhalten. "Aber sobald einem Jungen von uns was passiert, bleibt es nicht mehr ruhig", droht Jiro, "das können Sie ruhig so schreiben."