Bei unklarer Todesursache ist es die Aufgabe der Rechtsmedizin, Gewissheit zu erlangen – für die Polizei, Angehörige und nicht zuletzt die Toten selbst. Wie eine Obduktion abläuft und was sie verraten kann.
Ein weiß gefliester Raum, statt Fenstern Glasbausteine. Ein süßlicher Geruch lässt ein Gefühl von Beklommenheit aufkommen, von der Decke beleuchten Neonröhren zwei Seziertische aus Edelstahl. Auf einem davon liegt ein Mann. Er hat die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet, die Arme liegen ausgestreckt neben dem Oberkörper. Bis auf eine Armbanduhr am linken Handgelenk ist er nackt. Mit einem Gummiband hat jemand einen gelben Zettel mit seinem Namen an seinem rechten Fuß befestigt.
Kathrin Yen streift sich eine Maske über Mund und Nase und zieht Einmalhandschuhe aus einer Pappbox. Mit ihrem Team soll die Professorin jetzt herausfinden, was sie den Mann auf dem Tisch nicht fragen kann: warum er gestorben ist. Was ihm zugestoßen ist in jener kalten Nacht im Januar, als er nicht mehr nach Hause kam.
Yen ist die ärztliche Direktorin des Instituts für Rechts- und Verkehrsmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg. Mehr als 300 Obduktionen finden hier jedes Jahr statt, meist beauftragt von der Staatsanwaltschaft, selten von Angehörigen. Eine , die rechtsmedizinische Leichenöffnung, bringt ans Licht, was Tote nicht mehr erzählen können. Sie klärt, ob ein Unfall geschehen ist oder ein Verbrechen. Ob jemand vergiftet wurde oder einen Herzinfarkt hatte. Ob jemand Suizid begangen oder ein anderer ihn getötet hat.
Den Mann auf dem Seziertisch hatte vor ein paar Tagen ein Spaziergänger entdeckt. Rücklings hatte er im flachen Wasser eines zwei Meter tiefen Grabens gelegen, mit Kratzern am Kopf und Laub an der Kleidung. Fast zwölf Stunden zuvor war der 68-jährige Mann als vermisst gemeldet worden. Ob er ertrunken ist, wollen die Ermittler nun von Yen und ihrem Team wissen. Und ob Fremdverschulden vorliegt.
Jede Obduktion beginnt mit der äußeren Leichenschau. Die übernehmen Assistenzärztin Emily Ungermann und Assistenzarzt Lukas Schaub. Nie steht nur ein Arzt am Tisch - bei einer Obduktion gilt das Vier-Augen-Prinzip, mindestens. Sie habe mitgezählt, sagt Ungermann und greift zum Diktiergerät, dies sei ihre 197. Leichenöffnung. Bei der ersten habe sie den Saal verlassen müssen, ihr sei mulmig geworden. Jetzt, 196 Leichen später, begutachtet Ungermann routiniert jeden Quadratzentimeter Haut. Sie benennt die Kratzer an der Nase, die Bartstoppeln am Kinn, den zahnlosen Oberkiefer und das weißliche Sekret um den Mund des Toten, das aussieht wie etwas, das Rechtsmediziner "Schaumpilz" nennen.
Der schaumige Belag könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Mann ertrunken ist. Im Mund jedoch ist nichts davon zu sehen, deshalb macht Direktorin Yen einen Test: Fest drückt sie mit beiden Händen auf den Brustkorb des Mannes, aus dessen Rachen ein glucksendes Geräusch dringt. Schaumpilz kommt nicht zum Vorschein, das Sekret muss etwas anderes sein.
Bei einer Obduktion sei es wichtig, alle Sinne einzusetzen, sagt Yen. "Wir horchen, ob Luft unter der Haut leise knistert oder ob Knochenbrüche knirschen. Wir tasten die Organe ab. Wir riechen Alkohol oder den Bittermandelgeruch einer Zyankalivergiftung." Und die Paste, die sich alle unter die Nase reiben gegen den Verwesungsgestank? Gibt's nur in Filmen, sagt die Professorin: "Das funktioniert nicht und stört nur den Geruchssinn. Ich kenne niemanden, der so was benutzt."
Ungermann und Schaub tasten die Gesichtsknochen ab, suchen nach Fremdkörpern in der Nase und Blut in den Ohren. Sie klappen die Augenlider um, um Blutungen zu finden, die auf der Bindehaut entstehen, wenn jemand erstickt. Nichts. Stattdessen entdecken sie zwei kleine Wunden am Kopf und Totenflecken auf dem Rücken. Leichenflecken und die Leichenstarre, die etwa zwei Stunden nach dem Tod eintritt und die Gelenke versteift, zählen zu den sicheren Zeichen des Todes.
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