Junge Menschen sind in Deutschland eine Minderheit, die oft übersehen wird. Das wollen sie ändern - mit guten Ideen.
Jemand hat übergroße Emojis auf die Bühne geschoben, Plakate von Alf und Otto an die Wand geklebt und dazwischen zwei Sessel gestellt. So also sieht es aus, wenn Erwachsene versuchen, junge Menschen anzusprechen? Auf dem einen Sessel sitzt Jamila Tressel, 22 Jahre alt, die Hände gefaltet. Sie ist Bildungsaktivistin, seit sie mit 14 Jahren ihr Buch Wie wir Schule machen: Lernen, wie es uns gefällt schrieb - eine Abrechnung mit dem gegenwärtigen Bildungssystem.
"Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul", liest der Programmmanager der Körber Stiftung vor. Sie organisiert die Veranstaltung "Unerhört" in Hamburgs Speicherstadt, damit die Meinungen und Pläne der jungen Generation Gehör finden. Das Zitat ist nicht aktuell, es stand auf einer babylonischen Schrifttafel, etwa 1000 vor Christus. Doch so ähnlich könnte es auch im Jahr 2021 noch zu hören sein, sagt der Programmmanager: "Die Meinungen junger Menschen werden notorisch unterschätzt, gar nicht berücksichtigt und als unerhört abgestempelt. Sie sind oft Gesprächsthema, aber nicht Gesprächspartner."
Hat unsere Gesellschaft ein Problem mit der Jugend? Aktuell jedenfalls ist diese in der Minderheit und hat praktisch keine Lobby. 10,3 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung sind zwischen 15 und 24 Jahre alt. Das sind 8 Millionen von 83,2 Millionen Menschen. Bei der Bundestagswahl 2021 gab es rund 2,8 Millionen Erstwähler. Das sind 4,6 Prozent aller Wahlberechtigten. Bei den über 70-Jährigen waren es dagegen 21,3 Prozent. Die junge Generation ist also viel zu klein, um Wahlen zu gewinnen. Und dadurch auch eine Generation, deren Bedürfnisse gern übergangen werden. Was also bleibt den Jugendlichen? Sie nehmen ihre Zukunft selbst in die Hand.
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Jamila Tressel blickt in ein junges Publikum. Sonst kommen zu den Körber-Veranstaltungen Rentner, heute sind es Neunt- und Zehntklässler, auch Oberstufenschüler. Sie spricht davon, dass Schule, wie sie heute ist, nicht mehr gebraucht wird - und blickt in zustimmende Gesichter. Sie spricht davon, dass Schule ein Relikt aus dem beginnenden Industriezeitalter sei und heute Persönlichkeitsbildung und Haltung wichtig seien. "Viele wissen nicht, was sie nach dem Abitur machen sollen, weil sie in der Schule nicht gelernt haben, wofür sie sich begeistern, was sie mit Leidenschaft anpacken." Sie spricht von Kompetenzen, die im Mittelpunkt stehen sollten, Selbstständigkeit, Verantwortung, Finanzwissen und Sozialkompetenz.
Bis vor zwei Jahren ist selbst Tressel noch zur Schule gegangen, heute berät sie Unternehmen, coacht Lehrkräfte oder referiert auf Konferenzen. Ihre eigene Schulgeschichte sei schwierig gewesen. Als Zehnjährige kam sie auf ein Schnelllerngymnasium. Sie übersprang eine Klasse, die Noten erlaubten es. Aber unter dem Druck habe sie gelitten. "Ich habe nur noch funktioniert." Tressel entwickelte Schulangst.
Schließlich wechselte sie auf die Evangelische Schule Berlin Zentrum, die für eine neue Lernkultur und radikale Einbeziehung der Schülerinnen und Schüler steht. Im Vorstellungsgespräch saß ihre Mutter neben und die Schulleiterin Magret Rasfeld vor ihr. Aber nicht die Erwachsenen redeten. Jamila Tressel durfte von ihrer Vision von Schule erzählen, in der Kinder die Leitung haben oder zumindest mitbestimmen dürfen. Magret Rasfeld habe sie noch am selben Tag zu einer Veranstaltung über Schulreformierung eingeladen und ihr ein Mikro in die Hand gedrückt. Die Pädagogin setzt seit vielen Jahren darauf, die Jungen selbst machen zu lassen. Sie sagt: "Die sprechen aus dem Herzen. Wir Erwachsenen sind oft so verkopft. Wir tragen Scheuklappen und müssten eigentlich mehr von den Jungen lernen." Doch mit ihrer Meinung sei sie weitgehend allein, sagt Rasfeld.
Die Schülerin Jamila Tressel wurde von Rasfeld trotzdem weiter zu Vorträgen über die Schule geschickt, sie fuhr zu Fortbildungen für Lehrer in die Schweiz oder nach Südkorea. "Sie kann sehr reflektiert reden", sagt Rasfeld heute über Tressel. "Damals schon!" In ihrem Abi-Jahr 2019 flog Tressel zu einer Konferenz nach Bangkok. Inzwischen ist sie erfahren, und doch ist sie immer noch erstaunt über ihre Wirkung: "W ow, jetzt kommen junge Menschen zu mir und interessieren sich dafür, wie ich an die Welt herantrete und mir Gehör verschaffe!" Tressel könnte sich aussuchen, was sie studieren möchte. Doch noch grübelt sie: "Ich möchte kein Verlegenheitsstudium beginnen, das mich nur so semi interessiert."
Auf der Bühne in Hamburg fordert Tressel die Jugendlichen auf, Dinge aufzuschreiben, die ihnen in der Schule wichtig wären. In der entstehenden Wortwolke sind die größten, am häufigsten genannten Begriffe: Kreativität, Begeisterung, Selbstständigkeit, Selbstvertrauen, Verantwortung, Steuerklärung, Sozialkompetenz. Tressel lächelt, das ist eine Bestätigung für sie. "Es ist nicht nur so, dass uns die älteren Menschen nichts zutrauen, es ist auch so, dass wir uns selbst nichts zutrauen, weil wir in der Schulzeit keine Selbstwirksamkeit erfahren."