Richard Socher sucht seine Brille. Vor ihm wippt der Laptop-Screen im Laufschritt. "Moment. Sie kann doch nicht weit sein. Bin gleich wieder da." Er stellt den Laptop ab. Das Hintergrundbild zeigt Berge und Täler von oben. Von Socher selbst fotografiert - beim Paragliden, das ist sein Lieblingssport. Manchmal schnallt er sich dabei einen kleinen Propeller auf den Rücken, um schneller zu fliegen. Socher kam 1983 als Sohn eines Wissenschaftlers und einer Ingenieurin in Dresden auf die Welt, studierte dann Computerlinguistik in Leipzig und Saarbrücken. Heute schaut die ganze Hightech-Branche des Silicon Valley auf ihn. Auch ohne dass er Professor wurde, was einst sein Wunsch war, gehört er inzwischen zu den meistzitierten Forschern für künstliche Intelligenz (KI) weltweit. Und gerade hat er mit seinem kleinen Start-up eine neue Suchmaschine gestartet, die es mit dem großen Konkurrenten Google aufnehmen will. Socher ist zurück, die Brille auf der Nase. "So, jetzt kann ich auch weiter weg vom Bildschirm sitzen."
DIE ZEIT: Herr Socher, machen Sie sich eigentlich viele Gedanken über den Zustand der Welt?
Richard Socher: Ja, schon. Auf Twitter folge ich einem Account namens Pessimists Archive, der häufig jahrzehntealte Zeitungsartikel postet. Dort kann man lesen, die Menschen würden seit dem Aufkommen der Zeitungen weniger miteinander reden, Comics die Kinder verderben oder der Fernseher sei das Ende der Welt.
ZEIT: Wollen Sie sagen, dass der Mensch ein Pessimist ist und Ängste neuen Technologien gegenüber unbegründet sind?
Socher: Statistisch betrachtet, gibt es viele Fortschritte, etwa was den weltweiten Wohlstand oder die Gesundheit angeht. Was mir aber schon Sorge bereitet, ist, dass die Menschen durch soziale Medien, Algorithmen und KI an die Ränder des politischen Spektrums treiben. Sie klicken auf Absurdes, extrem Linkes oder Rechtes, einfach weil sie sich da mehr aufregen. Deswegen ist Trump so populär geworden, weil selbst Leute, die ihn hassten, auf entsprechende Posts geklickt haben. KI-Algorithmen warten nur darauf, wie viel Aufmerksamkeit ein Link bekommt, und dann zeigen sie noch mehr davon, ohne dass ein Thema dafür beliebt sein muss.
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ZEIT: Ich habe zwei Fakten mitgebracht, die mich erschrecken: 96 Prozent der Digital Natives wissen nicht, wie sie etwa auf Facebook Quellen einer Website verifizieren. Und Studien zufolge wissen 50 Prozent der erwachsenen Nutzer von nicht, dass die markierten Suchergebnisse, die ganz oben angezeigt werden, Anzeigen sind - nicht die beliebtesten oder relevantesten Resultate.
Socher: Wow!
ZEIT: Das erschreckt Sie also auch?
Socher: Mir ist klar, dass sich die Digitalisierung der Weltwirtschaft und der Industrie nicht aufhalten lässt. Aber während alles online geht, haben wir in vielen westlichen Ländern einen einzigen Gatekeeper: Google. Das ist problematisch. Google verkauft eben an die höchstbietenden Werbekunden, die dann ganz oben gerankt werden. Hinzu kommt, dass inzwischen 65 Prozent aller Suchanfragen das Google-Ökosystem gar nicht mehr verlassen.
"Ich nenne das auch Informationsdiät. Also bewusst entscheiden, welche Informationen man täglich zu sich nimmt." Richard Socher
ZEIT: Das heißt?
Socher: Man bleibt auf , auf Google Maps oder Google Shopping. Oder klickt auf "Ähnliche Fragen".
ZEIT: Man bleibt in Shoppingmall.
Socher: Genau. Google versucht Sie in der eigenen Aufmerksamkeitsschleife zu halten, bis es eine Möglichkeit gibt, etwas zu verkaufen. Nur um ein Fünkchen mehr von den Werbekunden abzugreifen, wird die Privatsphäre der Nutzer unterminiert. Die ganze erste Seite einer Google-Suche ist im Grunde nur noch Werbung. Stellen Sie sich dieses Modell für Firmen in der Zukunft weiter vor, alle werden eine Art Google-Steuer bezahlen müssen.
ZEIT: Sie sind Geschäftsführer von you.com, einer neuen, werbefreien Suchmaschine, die Sie als die erste offene Suchmaschine der Welt bezeichnen. Aber mit Google können Sie es nicht wirklich aufnehmen?
Socher: Du kannst nicht mit einem Milliarden-Monopol konkurrieren, das ist unmöglich, so was höre ich schon. Aber Menschen sollten mehr Mitspracherecht und Entscheidungsfreiheit haben, welche Quellen sie für sich nutzen wollen. Sie sollten zum Beispiel wählen können: Zu diesem Thema will ich keine sozialen Medien sehen, sondern nur Zeitungsartikel, und zu diesem möchte ich sehen, was die Leute dazu debattieren. Ich nenne das auch Informationsdiät. Also bewusst entscheiden, welche Informationen man täglich zu sich nimmt.
ZEIT: Halten Sie auch Informationsdiät?
Socher: Instagram habe ich gelöscht. Das saugt einen immer rein, und auf einmal sind 30 Minuten verloren. Vor 20 Jahren hatten wir noch das Problem, wie wir an die Information rankommen. Mittlerweile gibt es zu viele Informationen, und da muss die KI ran, sie muss zusammenfassen können. Und die KI muss auch kontrollierbar sein für die Benutzer, sie müssen wissen, worauf sie vertrauen können.
ZEIT: Glauben Sie, dass KI und Algorithmen die Welt besser machen werden?
Socher: Das ist wie mit einem Hammer, einem Auto oder dem Internet selbst: Menschen können sie als Werkzeug oder als Waffe benutzen. Die KI kann also nur so gut sein wie die Menschen, die Systeme und Datensätze beeinflussen. Das Internet hat auch unglaublich dunkle Seiten. Aber sollten wir es deswegen ganz abschalten? Oder versuchen, mehr Licht reinzubringen, mehr freundliche und helle Seiten?