Frage: Herr Pöhlmann, bei den Corona-Demos tauchen ständig Anhänger der QAnon-Bewegung auf: Sie halten das Virus für eine Biowaffe und glauben, dass eine satanische Elite unterirdisch Kinder missbraucht. Was steckt dahinter?
Matthias Pöhlmann
ist Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, München.
Matthias Pöhlmann: Die QAnon-Bewegung begann 2017, nachdem jemand, der nur als Q bekannt war, Verschwörungstheorien über Donald Trump oder Hillary Clinton im Internetforum 4chan veröffentlicht hatte. Die Anhänger der Bewegung verstehen Q seither als Propheten. Die QAnonisten bezeichnen sich selbst als Truther, also Wahrheitssuchende oder Querdenker. Während sie sich zunächst fast anonym in der digitalen Welt getroffen haben, wollen sie sich jetzt öffentlich zeigen. Plötzlich sieht man Q-Flaggen und Qs auf T-Shirts. In Deutschland verbreiten Prominente wie Xavier Naidoo die Erzählungen. Es ist unklar, wie groß die Bewegung wirklich ist.
Frage: Wie schätzen Sie den Einfluss von QAnon in Deutschland ein?
Pöhlmann: QAnon wächst in Deutschland rasant. Das kann man seit März beobachten. Es hängt mit den Maßnahmen der Regierung gegen die Corona-Pandemie zusammen. QAnon kann hierzulande an bereits bestehende Verschwörungserzählungen andocken, an ein diffuses Gefühl des Kontrollverlusts, des Misstrauens gegenüber Politik, Wissenschaft und Medien. 2018 ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass der rechte Esoteriker Jan Udo Holey, der auch unter dem Pseudonym Jan van Helsing Bücher veröffentlicht, bereits mit Erzählungen von Q argumentiert hat. Das Gefährliche in Deutschland ist der Schulterschluss der Anhänger mit Rechtsextremen, Reichsbürgern und rechten Esoterikern. Teilweise handelt es sich um ein und dieselben Personen.
Frage: Der größte deutsche Telegram-Kanal hat mehr als 100.000 Abonnenten. Welche Rolle spielt das Internet?
Pöhlmann: Das Faszinierende auch in Deutschland ist für die Anhänger, dass sie mitmachen, miträtseln und selbst am Verschwörungsmythos mit weiterschreiben können. Das Ganze funktioniert wie ein digitaler Selbstbaukasten der Absonderlichkeiten und Fantasiewelten. Während wir sonst ein Nebeneinander von Verschwörungserzählungen haben, ist es bei QAnon ein Patchwork, das durch untermauernde Eigeninterpretationen, vielleicht auch Wahnwelten, am Leben gehalten wird. QAnon hat wegen des Schwarz-Weiß-Denkens der Anhänger durchaus einen sektenhaften Charakter.
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Frage: In QAnon-Gruppen im Internet kursieren Bilder, auf denen Donald Trump im Oval Office sitzt, während ihm Jesus bekräftigend die Hände auf die Schultern legt.
Pöhlmann: Trump wird zum Erlöser im Kampf gegen den sogenannten "tiefen Staat" stilisiert. Wir haben es hier mit einer klaren Erlösungserzählung zu tun, die die Welt von allem Negativen befreien soll. Trump selbst inszeniert sich gern mit der Bibel vor der Kamera oder bezeichnet sich als Auserwählten. Was die Q-Anhänger wiederum für ihre Erzählung nutzen.
Frage: Das amerikanische Magazin The Atlantic beschreibt QAnon sogar als eine neue amerikanische Religion.
Pöhlmann: Ich würde eher von einem versekteten Verschwörungsglauben sprechen. Die Anhänger fühlen sich einem Kreis der Wissenden zugehörig, die anderen gelten als die Systemgläubigen, die Nichterwachten, von denen man sich bewusst abgrenzen will. Für die Anhänger hat das natürlich eine Glaubensdimension. Wobei es sich hier um sehr säkulare und innerweltliche Heilshoffnungen handelt.
Frage: Gibt es Parallelen zu Religionen?
Pöhlmann: Die Bewegung hat religionshafte Züge. QAnon ist sehr stark apokalyptisch geprägt. Die Vorstellung von einem kosmischen Endkampf zwischen Gut und Böse ist in der amerikanischen Religionstradition tief verankert. QAnon führt diese böse Welt sehr eindrucksvoll vor Augen. Die Anhänger nehmen Versatzstücke aus anderen Verschwörungserzählungen wie etwa Satanic Panic, die an satanische Täternetzwerke glauben: Diese halten angeblich Kinder gefangen und missbrauchen sie systematisch. Bei QAnon gibt es aber nicht den Satan der üblichen christlich-fundamentalistischen Deutungen. Die Bewegung überträgt das Böse auf konkrete Personen und Gruppen.
Frage: Die Bewegung behauptet unter anderem, dass die Angehörigen der Familie Rothschild sich mit dem Blut von Kindern verjüngen. Wie antisemitisch ist QAnon?
Pöhlmann: Diese Vorstellung, wonach Kinder entführt, ihnen ein Verjüngungsstoff entnommen wird, um daraus eine Hexensalbe oder Ähnliches anzufertigen, kennen wir aus der mittelalterlichen Ritualpropaganda, die sich stark gegen Juden richtete. QAnon überträgt die alte Sündenbocktheorie auf die sogenannte Finanzelite. Es gibt ganz klare antisemitische Überzeugungen. Dazu zählen auch die Protokolle der Weisen von Zion, die von QAnonisten ebenso wie von rechten Esoterikern rezipiert werden. Eine programmatische Schrift für das antisemitische Verschwörungsdenken. Die erste Ausgabe dieser Fiktion erschien 1903 im russischen Kaiserreich, verbreitete sich international und wurde dann von den Nationalsozialisten übernommen, um die Ermordung von Juden zu rechtfertigen.
Frage: Tobias R., der im Februar dieses Jahres zehn Menschen in Hanau ermordete, glaubte auch an Motive der QAnon-Erzählung. Wie groß schätzen Sie die Gefahr einer Radikalisierung ein?
Pöhlmann: In der Szene gibt es ein enormes Wut- und Hasspotenzial. Manche Anhänger betrachten Gewalt und letztlich auch Tötungen als legitime Mittel. Das war schon 2016 bei der Pizzagate-Verschwörung zu sehen: Anhänger der QAnon-Bewegung glaubten, dass führende Demokraten in einer Pizzeria in Washington einen unterirdischen Kinderporno-Ring betrieben. Darin verwickelt sei auch die damalige US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton. Ein Mann suchte deshalb die Pizzeria auf und gab dort Schüsse ab. Zum Glück wurde niemand verletzt.
Frage: Die QAnonisten trauen weder den Medien noch der Wissenschaft. Sie werden von der Q-Gemeinde sogar aufgefordert, ihre Informationen exklusiv aus der "QAnon-Familie" zu beziehen. Was raten Sie als Sektenexperte jemandem, dessen Familienmitglied oder Freund an den Verschwörungskult glaubt?
Pöhlmann: Er sollte versuchen, gelassen zu bleiben und den Kontakt zu halten. Und er sollte rote Linien ziehen, wenn es zum Beispiel um antisemitische Aussagen geht. Gut ist auch die Frage nach Quellen und Motiven. Wer profitiert von diesen Erzählungen? Wer verdient Geld mit dem Verkauf von T-Shirts? Wessen YouTube-Kanäle verzeichnen Zuwachszahlen? In der Sektenberatung empfehle ich auch immer, nach den persönlichen Beweggründen, dem Warum zu fragen. Dann merkt man sehr schnell, welche Lebensthemen und diffusen Ängste eigentlich dahinterstehen. Aber ich gebe zu: Mit einem Fanatiker, der komplett in den Verschwörungsglauben abgerutscht ist, ist das vielleicht nicht mehr möglich.