Nina Meyer zieht den Lippenstift nach, bevor sie das Haus verlässt. Ungeschminkt geht sie nie zur Arbeit. Sie hat braunes schulterlanges Haar, sie trägt eine weiße Kurzjacke und ein Kleid mit Blumen. Morgens macht sie manchmal noch ein Selfie von sich vorm Spiegel im Aufzug auf dem Weg nach oben ins Büro.
Meyer arbeitet für Amprion, einen Übertragungsnetzbetreiber mit Sitz in Dortmund, der das zweitgrößte Stromnetz in Deutschland betreibt und über die Umspannanlagen und Strommasten von Niedersachsen bis zu den Alpen fast 30 Millionen Menschen versorgt. Seit 31 Jahren arbeitet Meyer nun für den Arbeitgeber, jede Woche 38,5 Stunden. 30 Jahre lang war sie für ihre Kollegen Bodo. Seit dem 19. August 2019 heißt sie Nina.
Als Transfrau gehört Nina Meyer zu einer Gruppe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die es im Beruf schwerer haben als andere. Einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und der Uni Bielefeld zufolge werden über 40 Prozent der Trans-Arbeitnehmer*innen am Arbeitsplatz diskriminiert. Bei homo- und bisexuellen Personen sind es 30 Prozent. Welche Konflikte erleben sie? Und was muss sich verändern, damit es ihnen besser geht?
Dass sie sich im Männerkörper falsch fühlt, wusste Nina Meyer schon seit der Pubertät. "Aber über Transsexualität hat damals nicht einmal die Bravo geschrieben." Geoutet hat sich die 51-Jährige erst vor Kurzem. "Ich habe das jahrelang schön verdrängt", sagt Meyer. Sie hat alle Kraft investiert, um in eine "Normalbiografie" zu passen. Erst ab 1985 die Lehre als Energieanlagentechniker, dann das Studium in Elektrotechnik, schließlich Hochzeit, Einfamilienhaus mit Terrasse und Garten und Aufstieg in der Firma. Heute leitet Meyer die Bilanzkreisführung, erfasst Energiemengen und Kilowattstunden und ist für ein Team verantwortlich.
Plötzlich mit Kleid und Lippenstift zur Arbeit
Starten Sie mit unserem sehr kurzen Nachrichten-Newsletter in den Tag - von Montag bis Freitag.
Dem Newsletter-Abonnement geht eine Registrierung voraus. Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzbestimmungen zur Kenntnis
Prüfen Sie Ihr Postfach und bestätigen Sie das Newsletter-Abonnement.
Im Dezember 2018 wagt Meyer den entscheidenden Schritt und sagt der Ehefrau, dass er von nun an als Frau leben möchte. Zur Arbeit ging sie weiter als Bodo. Doch irgendwann ging das nicht mehr. Diese zwei Kleiderschränke, der Herrenkleiderschrank mit den Jeans und den blau karierten Hemden und der Damenkleiderschrank mit den Pünktchen- und Blumenkleidern. "Ich will doch auch auf der Arbeit authentisch sein. Das kann man doch nicht auf irgendwelche Tageszeiten beschränken, das ist ja kein Spiel, sondern mein Leben."
Meyer spricht schließlich mit dem Chef, auch mit der Diversity-Beauftragten in der Personalabteilung, die so einen Fall noch nie hatte - und Meyer spricht mit jedem der 40 Mitarbeiter aus der Abteilung. Ruft einen nach dem anderen zu sich ins Büro, erklärt, was transsexuell bedeutet, zeigt Urlaubsfotos von sich im Sommerkleid.
Am 9. August 2019, einem Donnerstag, setzt sie zusammen mit der Personalabteilung eine E-Mail auf, sie ist ein bisschen humorvoll und im Ton einer Beförderung formuliert. "Ab dem 12. August wird Frau Nina Meyer die Abteilung Bilanzkreisführung übernehmen." Die E-Mail geht an alle 1000 Mitarbeiter am Standort. Am Montag, dem 12. August, kommt Frau Meyer im Kleid und mit Lippenstift zur Arbeit.
"Ich will doch auch auf der Arbeit authentisch sein. Das kann man doch nicht auf irgendwelche Tageszeiten beschränken, das ist ja kein Spiel, sondern mein Leben." Nina Meyer, Elektrotechnikerin
Menschen, die am Arbeitsplatz offen mit ihrer Geschlechtsidentität oder ihrer sexuellen Identität umgehen können, sind zufriedener als die, die das nicht tun, so eine Studie des Instituts für Diversity- & Antidiskriminierungsforschung. Nina Meyer machte nach ihrem Coming-out positive Erfahrungen: Ein paar Kolleginnen schenkten ihr Hakenschoner und Prosecco, es gibt ein Foto im Intranet, da hält sie gemeinsam mit dem Chef eine Regenbogenflagge. Dass das nicht die Regel ist, zeigt eine Studie der Prout-at-Work-Stiftung von 2017. Dort gaben fast drei Viertel der rund 2900 Befragten an, nach ihrem Coming-out Diskriminierung am Arbeitsplatz erlebt zu haben. Rund acht Prozent geben an, aufgrund ihrer sexuellen Orientierung keinen Job bekommen zu haben.