3 Abos und 1 Abonnent
Artikel

Essay: Schuld ist ein warmes Gefühl

Ein Mädchen schlägt die Hände vor das Gesicht: Schuldgefühle ähneln der Scham. © Caleb Woods/unsplash.com

1. Vorkommen

Schuldgefühle wiegen schwer. 60 Tonnen Schuld heißt eine Arbeit der bildenden Künstlerin Monica Bonvicini. Einen riesigen goldenen Anhänger hat sie an Stahlketten gehängt, er ist geformt aus den Buchstaben GUILT, englisch für Schuld - das ist auch eine Referenz an die protzigen Ketten der Rapper, die davon erzählen, wie sie einmal Schuld auf sich geladen haben und nun daraus Profit schlagen. "Schuld kann sich ansammeln wie Kapital", sagt Bonvicini. Profit auf Kosten anderer, wie auf den Finanzmärkten. In einer Studie stellten Forscher kürzlich fest, dass Investmentbanker ihre Emotionen oft völlig von ihrem Tun abspalten. Die Forscher erfanden dafür sogar einen Begriff: teflonic identity maneuvering. Wie bei einer Teflonpfanne, an der nichts kleben bleibt, will niemand schuld sein. Tatsächliches Verschulden und Schuldgefühle passen also oft nicht zusammen, schuld sind am besten immer die anderen. Das war schon in der Bibel so: Adam schob es auf Eva, und Eva beschuldigte die Schlange. Leben wir also in einer Ich-war's-nicht-Gesellschaft? Fehler einzugestehen und die Verantwortung zu übernehmen ist anscheinend eine rare Tugend. Eher sind dann schuldig: der Kapitalismus, die Religion, die Umstände, die drückende Zeit, die mitlaufende Masse. Joseph Goebbels' Sündenbock, jeder weiß es, waren die Juden. Nach den Verbrechen des Nationalsozialismus entstanden die Idee der Kollektivschuld - der stillen Komplizenschaft mit dem NS-Regime - und das sogenannte Survivor-Guilt-Syndrom. Diese posttraumatische Belastungsstörung wurde erstmals bei Holocaust-Überlebenden festgestellt. Sie beschreibt Schuldgefühle, die Menschen plagen, wenn sie zu denjenigen gehören, die extreme Ereignisse wie Völkermorde, Kriege oder Katastrophen überlebt haben. Schuldgefühle können auch ohne wirklich vorhandene Schuld auftreten.

2. Merkmale

Die Schrecklichkeit von Schuldgefühlen beschrieb der Schriftsteller und Philosoph Albert Camus in seinem Roman Der Fall mit dem Bild der Folterzelle, die so klein ist, dass der lebenslänglich Gefangene darin weder aufrecht stehen noch ausgestreckt liegen kann. Tatsächlich gibt es wenige Studien, die sich damit beschäftigen, wie der Körper Schuldgefühle ausdrückt. Eine gebeugte Haltung, ein gesenkter Kopf, Erröten, Schwitzen, Fieber oder ein verstimmter Magen können Hinweise sein, aber so äußern sich auch Angst oder Scham. Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass das Schuld- dem Schamgefühl nahesteht. Beide seien moralische Gefühle. Die Psychologin Tina Malti von der Universität in Toronto hingegen rückt Schuldgefühle in die Nähe der Empathie. Gemeinsam mit Kollegen hat sie in mehreren Studien herausgefunden: Schuld kann einen emotionalen Mangel ausgleichen. In einer Studie mit 244 Probanden im Alter von vier, acht und zwölf Jahren konnten die Kinder etwa Sticker und Schokolade verschenken. Bei den Kindern mit niedrigem Mitgefühl war entscheidend dafür, wie viel sie mit den anderen teilten, wie schuldig sie sich fühlten. Für Tina Malti sind das gute Nachrichten: "Wir können hilfsbereit sein, weil wir einfühlsam sind oder weil wir Schaden angerichtet haben und wir das bedauern", sagt sie. Schuld ist also ein warmes Gefühl.

3. Entstehung

Anders als Angst, Wut oder Traurigkeit, die primäre Emotionen sind, ist Schuld eine sekundäre Emotion, die also erst mit dem wachsenden Verständnis sozialer und moralischer Normen entsteht. "Ich bin schuld" oder "Das tut mir leid" zu sagen ist also nicht angeboren. Dafür ist Reflexion notwendig: Man muss sich in jemanden hineinversetzen und verstehen, dass man etwas falsch gemacht hat, sowie ein Verständnis davon besitzen, warum es falsch ist, die moralischen Verträge von Fairness, Gerechtigkeit oder Fürsorge zu brechen. Die Psychologin Amrisha Vaish von der University of Virginia ist eine von mehreren Wissenschaftlerinnen, die untersuchen, wann Schuldgefühle bei Kindern entstehen. Gemeinsam mit Kollegen lud sie eine Horde Zwei- bis Dreijähriger zum Experiment: Ein Erwachsener baute einen Spielzeugturm und bat die Kinder, kurz bevor er den Raum verließ, den mit viel Aufwand gebauten Turm nicht anzurühren. Trotzdem zertrümmerten sie das Bauwerk lustvoll. Während viele der Zweijährigen zwar die Enttäuschung des Turmbauers darüber nachfühlten, beließen es die Dreijährigen nicht beim Mitgefühl: Sie versuchten, den Turm zu reparieren. Das sei der Beginn von Schuldgefühl, sagt Vaish. Und Tina Malti sagt: "Sehr junge Kinder weinen zwar, wenn sie ein Spielzeug kaputt machen, aber die komplexere Emotion Schuld entwickelt sich erst bis zu einem Alter von sechs Jahren." Mädchen seien darin ein bisschen besser als Jungen - genau wie bei der Empathie: Bei einer Befragung von 360 männlichen und weiblichen Probanden im Alter von 15 bis 50 Jahren fanden Wissenschaftler heraus, dass Frauen nicht nur ein deutlich intensiveres Schuldempfinden als Männer zeigen, sondern sich auch viel häufiger schuldig fühlen als diese. Besonders schwache Schuldgefühle empfanden in dieser Studie die 25- bis 33-jährigen Männer. Die Gründe dafür sahen die Studienmacher im Einfühlungsvermögen und in der unterschiedlichen Erziehung von Mädchen und Jungen. Auch ein Schuldempfinden ohne eigenes Verschulden kann anerzogen werden.

4. Zweck

"Schuldgefühle helfen uns Menschen, ethisch durch diese Welt zu navigieren", sagt Tina Malti. Sie seien eine Art sozialer Kitt, der uns helfe, zerbrochene Beziehungen wieder zu reparieren. Und wahrscheinlich seien sie eines der wenigen Gefühle, die uns von den Tieren unterscheiden. Durch Schuldgefühle können wir lernen, bestimmte Fehler in der Zukunft zu vermeiden. In dem Ratgeber Selber schuld! beschreibt der Therapeut, Psychiater und Neurowissenschaftler Raphael Bonelli von der Sigmund-Freud-Universität in Wien Schuldgefühle als eine Art Alarmsystem der Seele. So wie ein Schmerzgefühl eine körperliche Gefahr signalisiere, verweise ein Schuldgefühl auf einen sozialen Schaden; es mache uns darauf aufmerksam, dass unser Handeln nicht unseren moralischen Prinzipien entspreche. Bei dissozialen Persönlichkeiten hingegen fehlt die Einsicht in eigenes Verschulden, wissen Experten. Narzissten neigen dazu, die Schuld stets beim anderen zu suchen, und Psychopathen sind Empathie, soziale Verantwortung und Schuldgefühle komplett fremd. Anders gesagt: Wem seine Umwelt und seine Mitmenschen nicht egal sind, der sagt auch mal: "Ich bin schuld. Tut mir leid. Lass es mich wiedergutmachen."

5. Nebenwirkungen

Forscher halten moralische Schuldgefühle in der richtigen Dosis also grundsätzlich für eine gute Sache. Aber auch dann können sie quälen und lähmen. Schuldgefühle können sogar dazu genutzt werden, Menschen gefügig zu machen. In Jean-Paul Sartres Drama Die Fliegen hält der Usurpator Ägist das Volk von Argos durch ein künstlich gezüchtetes Schuldbewusstsein in Unfreiheit. Eltern, die ihren Kindern Schuldgefühle für etwas einimpfen, das außerhalb der Kontrolle der Kinder liegt, tun ihnen nichts Gutes, im Gegenteil. Einige Wissenschaftler verfolgen sogar die Hypothese, dass übermäßige Schuldgefühle bei Kindern ein frühes Warnsignal für psychische Störungen wie Depressionen, Angstzustände, Zwangsstörungen, bipolare Störungen oder Schizophrenie sein könnten. In einer zwölfjährigen Studie untersuchten sie die Verbindung von Schuldgefühlen mit der Entwicklung des Gehirns. Die Gehirnscans der Kinder mit übermäßigen Schuldgefühlen zeigten, dass die Hirnregion, die für emotionale Bewertungen und Mitgefühl verantwortlich ist, kleiner entwickelt war - was auch als Vorbote späterer Depressionen gilt. Auch Verdrängung, Projektion und selbstverletzendes Verhalten können Abwehrreaktionen gegen zu extrem empfundene Schuldgefühle sein.

6. Gebrauch

Folgt man der Psychologin Tina Malti, sollten Menschen am besten ihre neurotischen Schuldgefühle reduzieren und die moralischen Schuldgefühle fördern - also analysieren, ob etwa ein schlechtes Gewissen berechtigt oder vielleicht zu stark ausgeprägt ist. Vermeintlich unangenehme, vorschnell als negativ beschriebene Emotionen wie Schuld sollten genauso respektiert werden wie Mut, Zuversicht oder Empathie. Gefühle seien nicht binär, also einfach gut oder schlecht, sagt Malti. Zudem könnten Schuldgefühle Beziehungen festigen. Denn nur wenn man sich schuldig fühle, könne eine Schuld wieder aufgelöst werden. Das sei ein Wert, den man sich bewusst machen sollte. So gesehen seien Schuldgefühle die Voraussetzung für Verzeihen, Güte und Widerstandsfähigkeit. Doch Verzeihen ist schwer. Warum, beschreibt die Philosophin Svenja Flaßpöhler in ihrem Buch Verzeihen. Vom Umgang mit Schuld: Verzeihen gelte in unserer Gesellschaft, die vom Grundsatz "Wer schuld ist, muss zahlen" geprägt sei, weder als logisch noch als ökonomisch, noch als gerecht. Dennoch stecke darin eine besondere Kraft. Denn Verzeihen bedeute Verzicht auf Vergeltung. Und das sei ein Geschenk. -

Zum Original