In Japan gelten sie als Delikatesse und werden oft als Geschenke vergeben, zum Beispiel an Hochzeiten als Symbol für Langlebigkeit und Fruchtbarkeit: Der Matsutake ist eine begehrte Ware - und bildet den Mittelpunkt von Anna Löwenhaupt Tsings Buch "Der Pilz am Ende der Welt", in dem die Sozialanthropologin vom Kapitalismus aus der Perspektive eines Pilzes erzählt.
Das klingt erstmal schräg. Aber tatsächlich finden sich für die Verwertungsakkumulation durch globale Lieferketten ja bereits einige frühere Beispiele: Joseph Conrads Roman "Herz der Finsternis" thematisiert die Lieferkette für Elfenbein, die im 19. Jahrhundert Zentralafrika und Europa verband. Herman Melville schreibt in "Moby Dick" über Waltran, den ersten in großen Mengen verfügbaren flüssigen Brennstoff, gewonnen durch den Walfang. Tsing schreibt eben über den Matsutake - diesen Pilz, für den Japaner mitunter 800 Euro pro Kilo zahlen, der ausschließlich wild vorkommt und angeblich das Erste war, was ringsum Hiroshima gedieh, nachdem die Atombombe 1945 alles Leben dort vernichtet hatte.
Die Sozialanthropologin untersucht Warenkette und Marktzugänge, spricht mit Wissenschaftlern, Forstleuten und Matsutake-Händlern in den Vereinigten Staaten, Japan, Kanada, China und Finnland und erkundet dabei auch die immer verzweigteren Wege des Pilz. Sie stößt auf ein Netz von Verkäufern, Agenten und Sammlern tief in den Wäldern von Oregon, wo eine konkurrierende Sammlergemeinschaft aus asiatischen Flüchtlingen und Indochinakriegsveteranen von dem profitablen Pilz im Halbillegalen lebt. Für Tsing entwickelt sich hier ein freier Raum außerhalb der kapitalistischen Logik.
Während Kapitalismuskritiker häufig behaupten, dass es außerhalb des kapitalistischen Empire keinen Raum mehr gebe, setzt Tsing auf ökonomische Diversität. Sie fragt: Ist das Sammeln und Kaufen der Matsutake in den Wäldern von Oregon überhaupt Kapitalismus? Und folgert: "Die Sache ist: Es bildet sich dort kein Kapital." Es ginge zwar viel Geld von Hand zu Hand, aber die Akkumulation geschehe erst im weiteren Verlauf, in Vancouver, Tokio und Kobe, wo Exporteure und Importeure mit dem Matsutake-Handel ihre Firmen ausbauen.
Das Nebeneinander unterschiedlicher Ökonomien
Während bekannte Wirtschaftsdenker wie Michael Hardt und Antonio Negri die Universalität des Kapitalismus betonen und sich erhoffen, ihn durch Solidarität zu überwinden, fragt Anna Löwenhaupt Tsing: "Was für Scheuklappen eine derartige Hoffnung voraussetzt! Warum nicht einfach ökonomische Diversität einräumen?"
Tsing glaubt, dass nichtkapitalistische Formen (wie das Sammeln von Pilzen) auch überall in der kapitalistischen Welt zu finden sind und nicht nur in archaischen Gesellschaften - und dass der Kapitalismus gar darin verwickelt ist, manchmal sogar von ihm abhängt, wie bei den Versorgungsketten des Matsutake. Marktwert entsteht nicht nur in Fabriken, sondern auch in seltsamen Orten wie halbanarchischen Dörfern oder in von Atomkatastrophen zerstörten Wäldern. Tsing sucht nicht nach Alternativen zum Kapitalismus. Sie will den Blick auf das Nebeneinander unterschiedlicher Ökonomiestrukturen lenken.
Auch ihr Buch selbst spiegelt gewissermaßen einen Freiheitsgedanken, besitzt eine verästelte Struktur aus langen und kurzen Kapiteln. Es ist ein "offenes Gefüge" und "keine logische Maschine", schreibt Tsing. Die diversen Kapitel selbst "sollen sein wie Pilze, die nach dem Regen aufschießen, in übertriebener Fülle, nach Erkundung gierend, immer zu zahlreich".
Zu diesem Gedanken und der Ästhetik, die Welt in ihrer Diversität zu lassen, passt auch, dass Tsings Prellbock gegen den Kapitalismus immer wieder der Fortschritt ist. Sie hegt eine besondere Abneigung gegen alles, was versucht, die Welt zu vereinheitlichen, gegen Standardisierung, Uniformität, Algorithmen der Expansion. Fortschritt, diese "Idee aus dem neunzehnten Jahrhundert", ist für Tsing nicht polyphon, sondern "eine einförmige Melodie, die nur die Komposition zusammenhält". Sie stellt die Idee des Fortschritts als imaginiert dar. Und fragt, wie zum Gegenbeweis, wie Verbesserung ohne Variation überhaupt möglich sein soll? Andere, die fortschrittsgläubiger argumentieren, würden wiederum diese Haltung für reaktionär halten.
Trotzdem ist ihr Buch eine dankbare Lektüre. Ihre Idee eines gemeinschaftlichen Überlebenskampfes von Mensch und Pilz im Zeitalter des Anthropozän und ihr Plädoyer für (Bio-)Diversität ist erfrischend, weil Tsing im Gegensatz zu vielen anderen dabei immer unfrustriert bleibt: "Nicht, dass uns das Sammeln von Pilzen retten würde", schreibt Tsing selbst, "aber es dürfte unserer Fantasie auf die Sprünge helfen."