SPIEGEL ONLINE: Frau Illouz, kennen Sie die TV-Serie "Mad Men"? In der ersten Folge sagt der Werber Don Draper zu einer Frau: "Was Sie Liebe nennen, wurde von Typen wie mir erfunden, um Strumpfhosen zu verkaufen." Sind wir durch unsere Emotionen so korrumpierbar?
Illouz: Liebe und auch Sexualität sind wahrscheinlich die am besten vermarktbaren Gefühle. Der Kapitalismus hat Gefühle zu Waren gemacht. Nehmen wir das Tourismusunternehmen Club Med als Beispiel, das uns in seinen Anlagen Entspannung verkaufen will. Oder auch Geschenkartikel, die heute als Beweise persönlicher Nähe und Intimität dienen sollen, diese ganzen I-love-you-mum-Tassen und You-are-the-cutest-Teddybären, die zum Muttertag, Vatertag, Valentinstag verkauft werden. Das sind winzige Gefühlswaren, hinter denen eine riesige Industrie steht.
SPIEGEL ONLINE: Die Mehrheit der Menschen ist sich doch aber dieses Verblendungszusammenhangs bewusst. Gefragt, ob sie der Aussage zustimmen, dass der Valentinstag ein rein kommerzieller Festtag ist und nichts mit Liebe zu tun hat, antworteten 75 Prozent der befragten Deutschen mit "Ja".
Illouz: Ein Konsument ist kein Gläubiger. Er ist ironisch, er ist sich der augenzwinkernden verführerischen Bilder bewusst - und er zwinkert zurück. Das bedeutet aber gleichzeitig nicht, dass er nicht folgsam ist. Er ist ständig auf der Suche nach den stilvollsten, modernsten Waren und dem besten Schnäppchen.
SPIEGEL ONLINE: Wann entwickelte sich dieser Markt von Gefühlswaren?
Illouz: In den Fünfzigerjahren, als eine neue Freizeitkultur entstand und sich etwa der globale Tourismus zu einem Massenphänomen ausweitete. Hinzu kommt die Mode der Selbsthilfe, die sich Ende der Sechziger zu einem Mittelklassephänomen entwickelte - hier entstand ein Markt von Gefühlswaren, die sich um das Selbst drehen.
SPIEGEL ONLINE: Man hat den Eindruck, der eigene Psychologe, mit dem man sein intimes Gefühlsleben bespricht, gehört heute zu einem bestimmten Lifestyle dazu.
Illouz: Definitiv. Aber natürlich stimmt gleichzeitig auch, dass unser moderner Lebensstil eine enorme Überwachung unserer Gefühle erfordert. Der Druck, emotional fit zu sein, ist hoch. Nie zuvor waren wir von so vielen Menschen umgeben, nie zu vor haben wir mit so vielen Menschen gearbeitet, zudem in derart komplexen Organisationen, die uns so viele gegensätzliche Reaktionen abfordern: Man muss nett sein, aber auch durchsetzungsfähig und loyal der Firma gegenüber, und am besten immerzu die eigenen Fähigkeiten updaten. Wir müssen ständig performen in der Schule, an der Uni, in der Arbeit. Das verlangt nach Selbstmanagement.
SPIEGEL ONLINE: Sie verstehen Selbstmanagement auch als Gefühlsware?
Illouz: Klar. Es gibt einen riesigen Markt dafür: psychologische Beratung jeder denkbaren Schule, Workshops, Selbsthilfebücher, Coachings. Für mich bedeutet Authentizität auch die Möglichkeit zu sagen, das bin ich nicht, diese Rolle spiele ich nicht mit. Aber das, was uns die Selbsthilferatgeber feilbieten, ist das ständige Versprechen, wir könnten etwas auffüllen, was uns emotional fehlt. Das kulturelle Ideal der Selbstoptimierung hat diesen Wirtschaftszweigen zum Aufstieg verholfen. Hinzu kommen psychiatrische und allgemeinmedizinische Dienste und die Pharmabranche.
SPIEGEL ONLINE: Man soll laut solchen Büchern also in Rollen reinwachsen, statt bei sich zu blieben?
Illouz: Genau. Wir müssen aufhören, diese emotional perfekten Kreaturen zu sein! Sein lassen. Aufhören, so viel zu arbeiten. Insbesondere Frauen. Frauen arbeiten ständig an sich, physisch, psychisch, partnerschaftlich.
SPIEGEL ONLINE: Sind Depressionen oder Burn-out dann als Konsequenzen aus dem Optimierungszwang auch Gefühlswaren?
Illouz: Depressionen haben nichts mit den Erfindungen der Pharmaunternehmen zu tun, Menschen leiden darunter. Aber der Markt an psychotropischen Medikamenten ist groß. Erfindet die Pharmaindustrie manchmal Symptome oder pathologisiert sie Bewusstseinszustände, um Pillen zu verkaufen? Ja! Ist die gesellschaftliche Akzeptanz von Trauer und Melancholie heute geringer? Ja!
SPIEGEL ONLINE: Ist es grundsätzlich schlecht, sich ein Gefühl zu erkaufen?
Illouz: Die Frage zielt am Problem vorbei. Sehen Sie, es gibt gar keine wahren Gefühle, die kulturell unberührt wären, die nicht im Zusammenhang mit gesellschaftlichem - und so auch wirtschaftlichem - Leben stehen. Schon die griechische Tragödie setzte Gefühle bewusst ein. Aristoteles sagte, wenn man dem Helden zuschaut, muss man Mitgefühl, Angst oder Schande empfinden. Und wenn Menschen nach dem Sermon eines Priesters Angst haben, sie könnten in der Hölle schmoren, ist das ebenfalls ein von außen induziertes Gefühl. Wir bewegen uns permanent in einer Welt der Gefühle. In diesem Sinne kann ich den Unterschied zwischen einem erkauften oder einem authentischen Gefühl schwer ausmachen.
SPIEGEL ONLINE: Der Glaube an die eigenen authentischen Gefühle ist für viele Menschen aber so etwas wie die letzte Bastion der Wahrhaftigkeit.
Illouz: Wahrhaftigkeit wird uns durch Wirtschaft vermittelt. Man kann die Welt der wahren Gefühle nicht mehr von den Waren trennen, die ständig produziert werden. Wenn man sich das bewusst macht, muss man aber nicht zwingend verzweifeln - man kann auch schlicht gelassener mit sich selbst umgehen. Wenn Sie Urlaub in der Wüste machen, einen Guide und einen Esel buchen, in einer Jurte schlafen und danach sagen, was für eine einzigartig authentische Erfahrung das war - dann bin ich nicht diejenige, die das verurteilt.
Eva Illouz, Jahrgang 1961, ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Von ihr erschienen sind unter anderem "Warum Liebe weh tut", "Israel" und "Die Errettung der modernen Seele" (alle Suhrkamp).