Der Designer Stefan Sagmeister kennt die Antwort. Ein Gespräch über Zitrusduft, Instagram-Designer und die Schönheit von Bankautomaten
In jeder Ausgabe trifft ZEIT CAMPUS wissenschaftliche Koryphäen zur Sprechstunde. Dieses Mal: Stefan Sagmeister, 56, Designer und Dozent für Design an der School of Visual Arts in New York. Schön ist das Buch zur Ausstellung "Beauty. Schönheit = Wahrheit / Schönheit = Funktion", das er mit seiner Geschäftspartnerin Jessica Walsh gestaltet hat.
Ziehe ich einen blauen oder schwarzen Pullover an? Welche Schriftart nehme ich für meine Hausarbeit? Welchen Filter wähle ich bei Instagram? Was Menschen im Alltag schön finden, zeigt der Grafikdesigner und Typograf Stefan Sagmeister in der Ausstellung "Beauty" ab 11. Mai in Frankfurt. Sagmeister kam in Bregenz zur Welt, lebt heute in New York und gewann Hunderte Design-Preise. Er gestaltete Plattencover für die Rolling Stones oder Jay Z, arbeitet für große Werbekunden und dreht Filme wie "The Happy Film". Wir haben ihn im Museum für angewandte Kunst in Wien getroffen, wo seine Ausstellung vorher zu sehen war. Er kommt in weißer Hose, rosa Hemd, einem mit Libellen verzierten Mantel und einer, wie er sich entschuldigt, "grauenhaften" Plastiktüte.
ZEIT Campus: Herr Sagmeister, was bedeutet Schönheit?
Stefan Sagmeister: Man kann Schönheit als Summe verschiedener ästhetischer Werte wie Farbe, Form, Material oder Komposition definieren. Bei diesen Werten sind sich die meisten schnell einig, auch über die Kontinente hinweg. Ob ich Vorträge in Südamerika oder Korea halte, überall finden die Leute Kreise am schönsten. Überall schneiden Rechtecke am schlechtesten ab, wenn ich danach frage. Und immer gewinnt Blau.
ZEIT Campus: Woran liegt das?
Sagmeister: Die Evolutionstheorie sagt, dass man Bekanntes schöner findet. Was einen beim letzten Mal nicht angegriffen oder gefressen hat, kann nicht schlecht sein. Blau wird vermutlich am schönsten empfunden, weil uns früher ein blauer Himmel, ein blaues, ruhiges Meer Sicherheit vermittelt haben.
ZEIT Campus: Zu Ihrer Ausstellung gehört der Sensory Room, ein Raum mit warmem Licht wie bei einem Sonnenuntergang. Die Besucher hören einen malaysischen Zipfelkrötenfrosch quaken und atmen den Duft von Zitrusfrüchten. Sie wollten damit einen Raum schaffen, den möglichst viele Menschen schön finden. Hat das geklappt?
Sagmeister: Ich war vor ein paar Tagen wieder für zwei, drei Stunden drin, da kamen zwei Paare zu mir und meinten, das sei ja wohl das Schönste überhaupt. Die Idee für den Raum ist aus den Zweifeln an Umfragen entstanden, die behaupten, dass Leute diese Sinneseindrücke am liebsten mögen. Ich dachte: Wenn das stimmt, müsste bei der Kombination ein Raum rauskommen, der allen gefällt. Nicht alle Reaktionen sind positiv. Ich finde ihn auch nicht inspirierend.
ZEIT Campus: Trotzdem finden ja viele Menschen einen Sonnenuntergang schön.
Sagmeister: Natürlich. Unser Geschmack ist etwa zur Hälfte individuell und beruht zur anderen Hälfte auf unseren Erfahrungen. Ansonsten finden wir das schön, was wir gut kennen. Man muss sich nur meine Profession oder Architekten anschauen: Seit fünfzig Jahren laufen alle in Schwarz rum. Ab und zu treffe ich einen Grafiker, der mir stolz erzählt, dass seine Farbe Schwarz sei. Das ist natürlich nicht seine "individuelle" Entscheidung, sondern ein über die Jahre gewachsener Dresscode.
ZEIT Campus: In der Ausstellung zeigen Sie auch Fotos von einer Unterführung, die Sie umgestaltet haben. Oder von grauen Häusern in der albanischen Hauptstadt Tirana, die bunt gestrichen worden sind. Wie beeinflussen uns schöne Umgebungen?
Sagmeister: Wir fühlen und benehmen uns besser. Früher haben Leute in der Unterführung in New York uriniert, als sie aus den Clubs kamen. Heute machen Paare einander Heiratsanträge, weil ein großes Yes-Graffito an der Wand ist. In Tirana ist mit den bunten Häusern die Kriminalitätsrate gesunken. Online ist das auch so: Auf Instagram, wo Ästhetik wichtig ist, schreiben die Nutzer weniger Hasskommentare als auf Twitter.
ZEIT Campus: Was muss gutes Design heute können?
Sagmeister: Zwei Dinge: Es muss funktionieren. Und entzücken.
ZEIT Campus: Entzücken?
Sagmeister: Funktionalität allein ist zu wenig. Wenn ich ein Glas designen soll, aus dem man gut trinken kann, entwerfe ich in einer halben Stunde fünfzig Stück. Ich glaube, dass sich heute viele Designer hinter Funktionalität verstecken, weil sie so einfach zu erreichen ist. Wenn ich aber ein Glas entwerfen will, das auch schön ist, schaffe ich in derselben Zeit kein einziges. Da wird es saftig und schwer, da stehe ich plötzlich in Konkurrenz mit Gläsern aus der Geschichte, von den Römern bis zum Modernismus. Wenn ich einen Mantel, eine Website, das Interface von einem Bankomaten gestalte, muss ich mir genau diese Fragen stellen.
ZEIT Campus: Warum sollte mich das Interface von einem Bankautomaten entzücken?
Sagmeister: Weil es keinen Grund gibt, warum das nicht auch angenehm gestaltet sein sollte. Es gibt leider kaum eine Sparte, in der Schönheit nicht vollständig verdrängt wurde. Das ist doch ein schreckliches Leben, wenn alles nur noch funktional ist. Die Mode ist vielleicht die einzige Ausnahme. Weil es uns zu blöd wäre, nur funktionale graue Kittel anzuziehen. Was so nah am Körper ist, soll dann bitte auch schön sein.
ZEIT Campus: Wie wichtig ist es einem Designer, viele Menschen zu erreichen?
Sagmeister: Es gibt Designer, die wollen Design für Designer machen. Unter Musikern gibt’s den Satz: "Oh, he’s a musicians’ musician." Ich finde es ein bisschen armselig, wenn jemand nur seine Freunde beeindrucken will und das eigentliche Publikum vergisst. Früher haben wir Plattencover designt, weil davon manchmal fünf Millionen Stück gedruckt wurden. Heute macht uns das nicht mehr an, weil Vinyl nur noch ein Nischenpublikum kauft.
ZEIT Campus: Ihr Grafikstudio hat ja für viele Bands gearbeitet, für Lou Reed und die Rolling Stones. Wie gehen Sie mit exzentrischen, perfektionistischen Kunden um?
Sagmeister: Das ist sehr unterschiedlich. Uns war immer wichtig, unsere eigene Idee umzusetzen und nicht irgendeine vorgefertigte. Bei den Stones hatte ich viel mit Mick Jagger zu tun und wenig mit der Plattenfirma und dem Management. Das hat vieles einfacher gemacht. Trotzdem lief das eigentlich ziemlich corporate, wie mit einem Unternehmen. Jagger war der CEO. Die Hauptsache war, dass das Cover gut auf einer Baseballkappe ausschaute. Die Stones verdienen ja mehr Geld mit Merchandise als mit Musik.
ZEIT Campus: Welche Jobs lehnen Sie ab?
Sagmeister: Bei kommerziellen Jobs haben wir im Studio die Daumenregel: Wir machen alle Dinge, die wir auch verwenden würden. Und die, von denen wir glauben, dass sie ein Recht haben zu existieren. Das hat praktische und moralische Gründe: Die Einarbeitung ins Thema ist spannender. Und man muss nicht lügen. Designt man als Hundemensch Katzenfutterdosen, spüren das die Leute. Werber haben so einen schlechten Ruf, weil die Menschen merken, wenn da einer keine Ahnung von Katzen hat.
ZEIT Campus: Sie haben einmal für eine Konferenz ein Plakat gestaltet, für das Ihnen ein Praktikant den Text in den Oberkörper ritzte. Das war 1999. Wie sehr muss und kann ein Designer heute noch provozieren?
Sagmeister: Damals wie heute müssen Designer Dinge schaffen, die sehr schnell funktionieren. Im Alltag ist unser Publikum nicht wie bei einer Ausstellung zwei Stunden aufmerksam, sondern eine halbe Sekunde. Da können Provokationen funktionieren.
ZEIT Campus: Wie ändert sich Design durch Instagram?
Sagmeister: Das Publikum ist design-affiner geworden, ohne jeden Zweifel. Als ich in den Achtzigerjahren studiert habe, hätte mir meine Mutter nicht eine Schriftart mit Namen nennen können. Heute kennt jeder mindestens fünf Schriften. Instagram bringt die Leute dazu, ästhetische Entscheidungen zu treffen. In der Fotografie, aber auch in der Wahrnehmung von Schönheit. Schöne Dinge zu sammeln, Fotos von Plattencovern oder U-Bahn-Stationen, ist viel einfacher geworden, weil jeder ständig die Kamera dabeihat. Und die Designstudierenden haben viel mehr Saft und Kraft, denn sie wissen früher, was sie wollen. Ich muss die nicht mehr motivieren mit: " Hurray, hurray graphic design!"
ZEIT Campus: Wird es schwerer für junge Designer, sich zu behaupten, wenn plötzlich alle das Gefühl haben, sich mit Design auseinanderzusetzen?
Sagmeister: Nein, einfacher, weil auch das Publikum wächst. Und das Feld ist viel größer geworden. Vor eineinhalb Jahren war ich in Tokio und habe junge Designer kennengelernt. Denen ging es sehr gut, obwohl sie in Tokio gar keine Kunden hatten. Über Instagram kommt man als angehender Designer schneller an internationale Kunden.
ZEIT Campus: Kann man Kreativität eigentlich lernen?
Sagmeister: Veranlagung spielt eine Rolle, aber man kann mit Sicherheit das Handwerk lernen, immer besser werden. Es gibt auch Übungen dafür, wie jeder Ideen finden kann.
ZEIT Campus: Fällt Ihnen ein Beispiel ein?
Sagmeister: Ich habe immer drei, vier Sachen am Laufen. Wenn ich wo stecken bleibe, gehe ich zur nächsten. Oder ich fange mit etwas komplett anderem an. Wenn ich jetzt ein Wasserglas gestalten müsste, würde ich mich umsehen und mir etwas zum Kombinieren suchen, vielleicht Ihre Haare. Was könnte ich für ein Glas machen mit Haaren als Ausgangspunkt? Könnte es ein weiches, gewobenes Glas sein? Aus transparenten Silikonfäden? Ich weiß jetzt nicht, ob das in die richtige Richtung gehen wird, aber es ist eine Richtung, die ich ohne die "Haare" nie eingeschlagen hätte. Und: Damit die Qualität nicht weniger wird, sind Auszeiten zum Experimentieren wichtig. Ich habe in den Nullerjahren mein erstes Sabbatical genommen. Seitdem mache ich das alle sieben Jahre, wie in der Bibel. Das war eine meiner besseren Ideen: So ist der Beruf nach dreißig Jahren immer noch vergnüglich.