Zukunftsprognosen? Sind fast immer falsch, sagt Joachim Radkau. Der Historiker über Atominseln, Terroranschläge und darüber, warum sich Pessimismus lohnt.
Selbstfahrende Autos! Intelligente Maschinen! Steaks, für die keine Tiere sterben müssen, weil sie im Labor gezüchtet werden! Lange wurde an Universitäten und in Konzernen nicht mehr so wild und mutig über die Zukunft nachgedacht wie heute. Einerseits. Andererseits merken wir gerade, dass man kaum vorhersagen kann, wie sich die Dinge entwickeln. Wer hätte gedacht, dass Deutschland ausgerechnet unter einer CDU-Regierung aus der Atomenergie aussteigt? Vor dem Unfall von Fukushima: keiner. Oder dass russische Soldaten in Europa einmarschieren und ein Stück Land besetzen würden? Vor der Krimkrise: fast niemand. Oder dassein großkotziger Millionär in das wichtigste politische Amt der Welt gewählt werden würde? Eben. Joachim Radkau, 73, ist Experte für so was. Der emeritierte Professor für Neuere Geschichte sagt, dass Zukunftsvorhersagen falsch sind. Fast immer. Schon immer. Aber wieso? Zur Sprechstunde lädt er uns zu sich nach Bielefeld ein, in sein 120 Jahre altes Bauernhaus. "Ein Historiker", sagt Radkau, "muss auch historisch wohnen."
ZEIT CAMPUS: Herr Radkau, können Sie ausschließen, dass Marine Le Pen vom Front National im Mai Frankreichs Präsidentin wird?
Joachim Radkau: Nein, leider nicht.
ZEIT CAMPUS: Wird die AfD im September drittstärkste Partei bei der Bundestagswahl?
Radkau: Einiges spricht dafür. Aber Überraschungen sind immer möglich.
ZEIT CAMPUS: So wie beim Brexit oder bei der Wahl von Donald Trump, was viele Experten nicht haben kommen sehen?
Radkau: Ja. Auch ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass so ein Typ amerikanischer Präsident wird. Aber Wahlergebnisse genau vorherzusehen ist sowieso aussichtslos. Selbst etablierte Meinungsforschungsinstitute hauen da ständig daneben.
ZEIT CAMPUS: Kann man für die Zukunft planen, wenn sie so ungewiss ist?
Radkau: Es gibt nicht nur eine einzige Zukunft. Planungen und Prognosen sind zwingend notwendig, aber Leute, die eine absolute Vision der Zukunft prophezeien, bluffen. Wir müssen viele mögliche Zukünfte bedenken - und dann kann doch alles anders kommen.
ZEIT CAMPUS: Und für alle vorstellbaren Zukünfte brauchen wir einen Plan?
Radkau: Im Grunde ja. Etwa bei politischen oder wirtschaftlichen Entscheidungen. Ehe man sie trifft, muss man überlegen, welche unterschiedlichen Folgen sie haben könnten. Bis ins letzte Detail perfekt sollte der Plan aber noch nicht sein, im Gegenteil. Er muss die Flexibilität zulassen, die die Zukunft benötigt.
ZEIT CAMPUS: Warum kommen die Dinge meistens so anders als gedacht?
Radkau: Dafür gibt es drei Gründe. Erstens: Zufälle. Es passieren oft Dinge, die uns überraschen. Unfälle etwa oder Todesfälle, die etwas dramatisch verändern. Der zweite Grund sind Synergieeffekte. Also wenn Entwicklungen, die zunächst getrennt voneinander erschienen, sich plötzlich verquicken. Nehmen wir den Pädagogen Georg Picht. Er prophezeite 1964 den Niedergang der deutschen Wirtschaft, wenn es nicht mehr Abiturienten und Lehrer gäbe. Er bedachte aber nicht die zeitgleich beginnende Verbreitung der Anti-Baby-Pille, es wurde mehr verhütet, und ab 1970 wurden weniger Kinder geboren. Die Folge war eine massenhafte Lehrerarbeitslosigkeit in den Achtzigern.
ZEIT CAMPUS: Was ist der dritte Grund dafür, dass Zukunftsvorhersagen scheitern?
Radkau: Die Hoffnung! Wenn wir uns in Hoffnungen hineinsteigern, werden wir ebenfalls häufig überrascht und enttäuscht.
ZEIT CAMPUS: Wann denn, zum Beispiel?
Radkau: Nehmen wir die Atomeuphorie ab den fünfziger Jahren. Bis dahin hatten die Menschen Angst vor dem Atomkrieg, sie hatten noch die schrecklichen Bilder der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki vor Augen. Doch mit dem Aufkommen der zivilen Kernenergie und der Ölkrise 1973 sah man in der Atomspaltung, dem sogenannten friedlichen Atom, die Zukunft. Allein an der Unterelbe sollten 40 Kernkraftwerke entstehen. Helgoland sollte zur Atominsel werden! Dieser überdrehte Optimismus führte zur Stärkung der Anti-AKW-Bewegung. Viele Kraftwerke wurden deswegen nie gebaut. Heute ist der vollständige Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen.
ZEIT CAMPUS: Ist es da nicht besser, immer vom Negativen auszugehen?
Radkau: Auch Zukunftsvisionen, die von Angst geprägt sind, treten in ihrer Reinform oftmals nicht ein. Aber wer pessimistisch ist, sieht zumindest oft genauer hin, hat Gefahren eher im Blick und sorgt vor. In schwierigen Zeiten besteht die Chance, etwas zu verändern. Wie in der deutschen Nachkriegszeit: Wenn wir heute auf diese Zeit zurückschauen, ist von dem Wirtschaftswunder die Rede und von den zufriedenen Westdeutschen. Dabei waren damals das soziale Misstrauen und die Verunsicherung so hoch wie nie. Trotzdem ist eine gewaltige Aufbauleistung gelungen.
ZEIT CAMPUS: Gibt es Zukunftsvisionen, die tatsächlich eingetreten sind?
Radkau: Verdammt.(Pause) Diese Frage bringt mich tatsächlich ins Schleudern! Es gibt kaum Beispiele, wo genau das eintrat, was Jahre zuvor prognostiziert wurde. Eine Ausnahme ist vielleicht die Umweltaktivistin Rachel Carson. Sie hatte 1962 prophezeit, dass es bald einen Frühling ohne Vogelgezwitscher geben werde, weil Insekten durch Pestizide vernichtet und die Vögel aus Mangel an Nahrung sterben würden. In letzter Zeit haben wir gemerkt, dass manche Insektenbestände tatsächlich rapide zurückgehen und damit auch verschiedene Vogelarten.
ZEIT CAMPUS: Kann man etwas aus den Fehlprognosen der Geschichte lernen?
Radkau: Die Frage ist, ob es Fehlprognosen waren oder ob nicht bestätigte Prognosen auf historische Alternativen hinweisen, die sich nicht durchgesetzt haben.
ZEIT CAMPUS: Das verstehe ich nicht.
Radkau: Nehmen wir noch mal die Atomenergie. Die wirklichen Experten wussten von Anfang an, dass auch das friedlich genutzte Atom hochriskant ist. Manche wollten neue Reaktortypen entwickeln, die eine höhere Sicherheit versprachen und damit ins dicht besiedelte Deutschland gepasst hätten. Durchgesetzt hat sich stattdessen der Pragmatismus der Energiewirtschaft: Es wurden in Deutschland einfach die amerikanischen Leichtwasserreaktoren übernommen. Die waren erprobt und preiswert. Wie riskant diese Reaktoren waren, zeigte sich mit den ersten großen Unfällen, aber da war es dann schon zu spät.
"Ich liebe das Leben, aber unsterblich zu sein, fände ich entsetzlich"
ZEIT CAMPUS: Heute schauen laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach mehr als die Hälfte der Deutschen pessimistisch in die Zukunft. Woher kommt das?
Radkau: Die Situation ist mehrdeutig. Bis vor Kurzem überwog noch der Optimismus. Inzwischen sehen immer mehr Menschen die Gefahren des Terrorismus, sehen die eintreffenden Flüchtlinge kritisch, den Brexit Großbritanniens oder Donald Trump. Deshalb verbreitet sich wohl auch die Annahme, dass die Zukunft noch nie so unsicher war wie heute. Dabei war sie das immer.
ZEIT CAMPUS: Man könnte argumentieren, dass es den Menschen nie so gut ging wie heute: Es gibt eine hohe Lebenserwartung, kaum Kindersterblichkeit, wir machen medizinische und technische Fortschritte. Die Geschichte hat sich also zum Guten entwickelt.
Radkau: Für Deutschland gilt das gewiss. Allein schon, dass wir hier so lange Frieden haben, ist ein ungeheurer Segen. Und trotz der Opfer von Terrorattentaten darf man nicht vergessen: Sie sind nur ein winziger Bruchteil der Menschen, die in den beiden Weltkriegen gestorben sind.
ZEIT CAMPUS: Andererseits gibt es Menschen, die Parallelen ziehen zwischen dem Aufstieg von Donald Trump und dem von Adolf Hitler oder Benito Mussolini. Wiederholt sich die Geschichte manchmal?
Radkau: Das wird häufig behauptet, aber ich glaube das nicht. Ich sehe zwischen Trump und Hitler keine große Ähnlichkeit. Hitler hat nicht nur so dumm rumgequatscht, er war viel gefährlicher. Bei Trump könnte ich mir vorstellen, dass er bald alles hinschmeißt, weil er sich in seinem Ego verletzt fühlt. Das hat Hitler leider nicht getan.
ZEIT CAMPUS: Wir haben viel über die Zukunftsvisionen der Vergangenheit gesprochen. Was halten Sie von aktuellen Visionen? Die Firma Mars One hat die Idee, dass im Jahr 2032 der Mars besiedelt und das live im Fernsehen übertragen wird. Was denken Sie?
Radkau: Wissen Sie, in meiner Studentenzeit in den Sechzigern haben viele von so was geträumt. Urlaub auf dem Mars, das ist eine olle Kamelle. Ehrlich: Da könnte man sich ja nicht frei bewegen. Wer will denn so leben?
ZEIT CAMPUS: Nick Bostrom, ein Philosoph der Universität Oxford, sagt, dass bald intelligente Maschinen entstehen und die Menschheit unterjochen könnten. Plausibel?
Radkau: Auch solche Fantasien haben eine lange Geschichte. Aber: Die Automaten werden von Menschen gemacht und werden sich auch zukünftig von Menschen steuern lassen.
ZEIT CAMPUS: Und was ist mit der Idee von dem Google-Mitarbeiter Ray Kurzweil, der sagt, dass unsere Körper mit der Technik verschmelzen und wir unsterblich werden?
Radkau: Das glaube ich nicht. Ich liebe das Leben, aber unsterblich zu sein, fände ich entsetzlich. Irgendwann ist genug.
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