Sie studiert, pflegt ihre Eltern und merkt: Ich habe keine Kraft mehr. Er sagt: Ich hätte mein Studium nie anfangen sollen. Beide fragen sich: abbrechen oder durchziehen?
"Seit einem Jahr bin ich unfähig, zu lernen. Es fing an, als ich für eine Klausur lernte, zu der ich schon mal angetreten war - ich kannte den Stoff also schon. Aber vor meinen Augen verschwamm alles: Ich verstand nicht, was ich las und behielt das, was in den Büchern stand, nicht im Kopf. Solche Konzentrationsschwierigkeiten hatte ich vorher noch nie gehabt. Da merkte ich: Ich schaffe das alles nicht mehr. Am liebsten hätte ich in dem Moment alles hingeschmissen.
Neben dem Studium pflege ich meine Mutter, sie ist seit 20 Jahren chronisch krank. Ich gehe für sie einkaufen, erledige Sachen und bringe sie ins Krankenhaus. Vor zwei Jahren wurde dann bei meinem Vater Alzheimer diagnostiziert - mit 55 Jahren. Er hat zwar eine Pflegeperson, aber den seelischen Beistand erhält er von mir.
Eine To-Do-Liste für jede Minute des TagesDamit das einigermaßen klappt, schreibe ich mir jeden Tag eine To-Do-Liste, wo auf die Minute genau notiert ist, worum ich mich wann zu kümmern habe - in den Lücken dazwischen gehe ich zur Uni. Bis zum vierten Semester hat das auch ganz gut funktioniert.
Aber seit dem fünften Semester nehmen mich meine privaten Probleme komplett ein. Meine Mutter wurde immer kränker und um für sie da sein zu können, zog ich in ihre Nähe. Von dort aus musste ich aber eine lange Strecke zur Uni pendeln, hatte also noch weniger Zeit für mein Studium.
Das hielt ich nicht lange aus. Vor ein paar Monaten bin ich deshalb wieder umgezogen und wohne jetzt in der Nähe meiner Uni. Das war eine bewusste Entscheidung, damit ich mich besser auf die Uni konzentrieren und mein Studium schnell abschließen kann.
Denn während ich pro Semester zwei Prüfungen schreibe, schaffen meine Kommilitonen bis zu sieben. Es frustriert mich, dass ich für alles so lange brauche. Eigentlich lerne ich gerne, doch die Prüfungen sind ein zusätzlicher Stressfaktor, der mir im Nacken sitzt. Weil ich für alles so wenig Zeit habe und ich oft Probleme habe, mich zu konzentrieren, mache ich meine Uni-Sachen oft auf den letzten Drücker.
"Ich will stark für meine Eltern sein, aber ich habe keine Kraft mehr."
Sobald ich mal Zeit zum Lernen habe, kommt häufig ein Anruf von meiner Mutter, dass sie nichts zu essen zu Hause habe und wie schlecht es ihr geht. Meistens sagt sie dann, ich soll daheim bleiben, doch ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich weiterlernen würde.
Durch die Krankheit meiner Eltern bin ich mehr für sie verantwortlich als sie für mich. Ich fühle mich nicht wie ihr Kind, das mit seinen Problemen Rat bei seinen Eltern suchen kann, meine Probleme stelle ich für sie zurück. Wir haben Rollen getauscht. In dieser Rolle will ich für sie stark sein, aber ich habe keine Kraft mehr. Meine Eltern sehen das und versuchen auch, mich aufzubauen. Aber letztlich muss ich das mit mir selbst ausmachen.
Seit zwei Semestern begleitet mich deshalb der Gedanke, mein Studium abzubrechen, weil mir alles zu viel wird. Ich komme im Studium nicht voran und auch mein Fach, Sozialwissenschaften, ist inhaltlich nicht das, was ich mir darunter vorgestellt hatte.
Kein Spaß mehr, nur StressUrsprünglich habe ich das Studium begonnen, weil ich nach meiner Ausbildung zur Immobilienfachfrau etwas Neues lernen wollte, das mich interessiert. Aber durch den vielen Stress habe ich keine Freude mehr am Studium. In Lehrveranstaltung gehe ich nur, weil ich muss und eine große Jobperspektive habe ich mit einem Abschluss auch nicht.
Derzeit sammle ich nur noch ECTS-Punkte, um meinem geistigen Stillstand an der Uni so bald wie möglich zu entkommen. Studentin bin ich nur noch auf dem Papier, für mich ist es nicht mal mehr eine Lebenserfahrung.
Eigentlich würde ich gerne die letzten beiden Semester besser nutzen, als mich durchs Studium zu quälen und direkt abbrechen. Aber dann wären das ganze Leid, das ich für mein Studium ertragen habe, und die ganze harte Arbeit umsonst gewesen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Aber so, wie es jetzt ist, kann es auf keinen Fall weitergehen. Sonst zerbreche ich an dem Druck, der auf mir lastet."
Alexandra (24) studiert im sechsten Bachelorsemester Sozialwissenschaften an der Uni Köln.
"Vor ein paar Wochen arbeitete ich die ganze Nacht durch, bis es hell wurde. Allerdings nicht für mein Studium, sondern um ein Schmuckstück fertig zu bekommen. Ich saß stundenlang am Schreibtisch und vergaß dabei die Zeit. Als ich fertig war, fragte ich mich: Was mache ich hier eigentlich?
In dieser Nacht merkte ich: Ich hätte mein Studium längst abbrechen müssen.Es war kurz vor Sonnenaufgang und ich musste am nächsten Tag zur Uni. Ich merkte, dass immer, wenn ich einen Ring, ein Armband oder eine Halskette fertigte, ich alles um mich herum vergesse. Aber für eine Hausarbeit habe ich während meines Studiums nie eine Nacht durchgemacht. Da stimmt doch was nicht, dachte ich.
In dieser Nacht merkte ich: Ich hätte mein Studium längst abbrechen müssen. Aber dafür war es jetzt, im vorletzten Semester, eigentlich zu spät. Sollte ich wirklich alles hinschmeißen?
Wer Abitur macht, sollte auch studieren - oder?Rückblickend war es eine falsche Entscheidung, das Studium überhaupt anzufangen. Ursprünglich wollte ich direkt nach dem Abitur eine Ausbildung zum Goldschmied zu machen, doch es gab keine Lehrstelle für mich und meine Eltern und Freunde sagten mir, dass eine Lehre wenig wert sei. Wer Abitur macht, sollte auch studieren, fanden sie.
Anstatt das zu tun, was ich wollte, hörte ich auf meine Eltern und Freunde und schrieb mich im Sommersemester 2013 für Anglistik ein: Englisch war in der Schule mein bestes Fach und ich wollte mehr über englische Literatur erfahren. Darüber, welchen Beruf ich damit ausüben könnte, habe ich damals nicht nachgedacht.
"Zum Abbrechen war ich zu feige."
Wegen der fehlenden beruflichen Perspektive konnte ich mich nie für mein Studium motivieren: Ich verschob Prüfungen und habe deshalb zwei Semester länger studiert. Ich ging immer nur an die Uni, um meine Stunden abzusitzen und wusste einfach nicht, was ich mit meiner Zukunft anfangen sollte: Den Bachelor abschließen oder nicht? Und wenn ja, was mache ich dann mit einem Bachelor in Anglistik? Einen Master wollte ich auf keinen Fall anhängen. Wenn ich in der Uni meine Kommilitonen und Dozenten am Institut sah, merkte ich, dass ich nicht als Sprach- oder Literaturwissenschaftler arbeiten wollte.
Aber zum Abbrechen war ich zu feige. Ich hatte Angst, nach dem Abbruch vor dem Nichts zu stehen. Ich sah auch keine Alternativen abseits des Studiums und es machte mir Angst, die sicheren Strukturen der Uni zu verlassen. Nach dem Abbruch hätte ich mir einen Job oder eine Ausbildung suchen müssen - ohne ein Zeugnis in der Hand.
Oder doch abbrechen?Dabei vergaß ich, dass ich ja eine Leidenschaft und damit eine Perspektive hatte. Denn auch neben dem Studium habe ich die ganze Zeit hobbymäßig Schmuck hergestellt: Im vergangenen Herbst habe ich sogar ein Kleingewerbe angemeldet und einen Onlineshop aufgebaut.
In der Nacht an meinem Schreibtisch entschied ich, dass es zum Abbrechen zu spät ist: Kommendes Wintersemester bin ich mit dem Bachelor fertig. Dann möchte ich endlich das machen, was ich schon direkt nach dem Abi hätte tun sollen: eine Ausbildung zum Goldschmied.
Das motiviert mich, mein Studium jetzt so schnell wie möglich abzuschließen. Es wäre schade, die drei Jahre und den Aufwand für die Seminararbeiten und Klausuren kurz vor dem Ziel hinzuschmeißen. Zum Glück ist es nicht ungewöhnlich, dass Anglistikabsolventen beruflich etwas völlig anderes machen."
Benjamin Wester (22) studiert im siebten Bachelorsemester Anglistik an der LMU München.
Zum Original