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Ein grüner Sonderling will in den Bundestag

Johannes Kretschmann: Schafft es der Sohn des baden-württembergischen Ministerpräsidenten in den Bundestag? (Quelle: Peter Schilling)

Johannes Kretschmann hat ewig studiert, ist derzeit ohne festen Job - und hat doch gute Chancen, den Sprung nach Berlin zu schaffen. Hilft ihm nur der berühmte Vater oder auch der grüne Zeitgeist, der selbst tiefschwarze Regionen erfasst? 


Johannes Kretschmann stellt die Menschen vor eine Grundsatzentscheidung: Bio-Apfel oder ökologische Seife? Süß oder nützlich? Jeder darf sich an seinem Stand ein Produkt aussuchen. Hauptsache nachhaltig. Auch den Reporter empfängt er mit den Worten: "Grüß Gott, darf ich Ihnen einen Bio-Apfel anbieten?"

Es ist Wahlkampf. Und es sind nur noch wenige Tage bis zur Entscheidung. Kretschmann will für die Grünen im Wahlkreis Zollernalb-Sigmaringen in den Bundestag. Dass es ihm gelingt, ist nicht unwahrscheinlich. Laut einer Umfrage vom August liegt seine Partei im oberen Donautal auf halber Strecke zwischen Stuttgart und Bodensee gleichauf mit der CDU.

Kretschmann, 43, ist kein gewöhnlicher Kandidat: Auf dem Marktplatz in Bad Saulgau zieht er die Aufmerksamkeit auf sich wie ein seltenes Tier. Es liegt nicht nur daran, dass sein Vater der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist. Es ist auch sein Äußeres: Kretschmann junior, lange dunkle Haare bis zum Kinn, Vollbart, ist wie fast immer bei öffentlichen Auftritten ganz in Schwarz gekleidet, Mantel gegen den Nieselregen, auf dem Kopf eine altmodische Baskenmütze. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, dass er hier vor der gotischen Kirche historische Stadtführungen anbietet.

Mehr Aufmerksamkeit als Kevin Kühnert

Kretschmann spricht ähnlich breites Schwäbisch wie sein Vater, nur dass er die Silben nicht ganz so mühsam herauspresst. Auf seiner Webseite benutzt er die alte Rechtschreibung, Besucher heißt er mit "Sei mir gegrüßt, Freund & Fremde" willkommen, auf Instagram und bei Wahlkampfauftritten spielt er schon mal ein Ständchen auf seinem Waldhorn. E-Mails unterschreibt Kretschmann, der mit zweitem Namen Friedrich heißt, mit "JFK", als sei die Nähe zu einem berühmten Vater nicht schon genug. Wobei er sagt, es sei keine Kennedy-Anspielung, er heiße nun mal so.

Seine Rede, mit der sich Johannes Kretschmann im April beim digitalen Landesparteitag der Grünen für einen vorderen Listenplatz bewarb, hielt er im Stil eines lyrischen Vortrags. Mit Formulierungen wie "Lassen wir uns von Delphis scharfsichtigem Adler nordwärts tragen nach Transnistrien." Er landete damit auf dem angesichts der aktuellen Umfragen aussichtsreichen 21. Listenplatz. Auf YouTube wurde die Rede mehr als 3.400 Mal aufgerufen, so häufig wie kein anderes Bewerbungsvideo, nicht einmal das der grünen Legende Cem Özdemir. An manchen Tage des Wahlkampfs ist das mediale Aufsehen um den Kretschmann-Sohn größer als das um SPD-Vize Kevin Kühnert, der ebenfalls zum ersten Mal für den Bundestag kandidiert.

Doch was will ein Sonderling wie der junge Kretschmann in der Politik? Und welche Chance hat so jemand bei den Wählern?

Der Blick ins Archiv: Die Familie von Winfried Kretschmann mit Sohn Johannes (links) im Jahr 2011 (Quelle: imago images)

Dass Politiker-Kinder mit der Zeit eigene politische Ambitionen entwickeln, dafür gibt es zahlreiche Beispiele: Das bekannteste ist der Nachwuchs von Donald Trump. Die älteste Tochter Ivanka wurde eine Zeit lang gar als mögliche kommende Präsidentschaftskandidatin gehandelt. Es gibt Marine Le Pen in Frankreich, in Deutschland die Strauß-Tochter Monika Hohlmeier, die im Europaparlament sitzt. Den meisten blieb die große Karriere verwehrt, mit Ausnahme von Le Pen. Sie haben jedoch gemeinsam, dass alle hinschauen, wenn sie sich in die Öffentlichkeit begeben. Der Nachteil ist, dass dadurch auch ihre Fehler greller ausgeleuchtet werden. Auf der anderen Seite: Wer würde sich schon für einen Waldhorn-blasenden Grünen-Politiker mit Vorliebe für ausgefallene Kopfbedeckungen interessieren, ohne den Bonus, dass es sich beim Vater zugleich um den Landesvater handelt?

In der Politik steht der Name Kretschmann für Siege, dreimal hintereinander hat Johannes' Vater Winfried Kretschmann die Landtagswahl gewonnenen. Jedes Mal mit einem besseren Ergebnis. Jedes Mal hatte die CDU, die Baden-Württemberg über Jahrzehnte dominierte, das Nachsehen.

Es ist Kretschmann senior gelungen, weil er vieles vertritt, wofür auch die Konservativen stehen. Der Einsatz für den Verbrenner-Motor zum Beispiel und sein Eintreten für Abschiebungen nach Afghanistan. Winfried Kretschmann ist ein klassischer Realo. Sein Sohn Johannes trotz des exzentrischen Auftretens nicht weniger. Er will Veränderung, ja, aber nicht zu viel, denn das könnte die Menschen im oberen Donautal irritieren und ihn den Wahlsieg kosten.

"Ich will ja hier keine Revolution in irgendeiner Art lostreten", sagt Kretschmann. Er ist für mehr Solaranlagen auf den Dächern öffentlicher Gebäude, für den Ausbau der Windenergie, den Erhalt der Natur, Digitalisierung und Bürokratieabbau. Sein Auftreten mag manche Menschen überfordern, seine Pläne tun es eher nicht.

Er sah sich als "verlorenes Schwäblein"

Auf dem Marktplatz spricht er eine Gruppe Frauen an. Die sind nicht ganz überzeugt vom Kandidaten. Was ihnen am wichtigsten ist bei dieser Wahl? Ihr Wohlstand soll gesichert bleiben. Von einem Kandidaten erwarten sie "wirtschaftliche Kompetenz", die sehen sie, Kretschmann-Sohn hin oder her, bei der CDU. Kretschmann drückt ihnen seinen Flyer in die Hand, darauf steht: "Klima schützen", "Europa stärken", aber auch "Wohlstand sichern". Darunter gelb unterlegt der Leitspruch der Grünen bei dieser Bundestagswahl: "Bereit, weil Ihr es seid."

Kretschmann brauchte lang, bis er für die Politik bereit war.

Nach dem Abitur ging er nach Berlin, studierte Religionswissenschaften, Rumänistik und Linguistik, für den Magisterabschluss brauchte er elf Jahre. Die eigene Akribie habe ihm zu schaffen gemacht, erklärt er, jede Semesterarbeit empfand er als Tortur. Er sei "im Massenbetrieb der Uni untergangen", sah sich als "verlorenes Schwäblein". Immerhin ein studentisches Blasorchester hat er mitbegründet.

Nur: Wenn ihn schon der Massenbetrieb der Berliner Uni überfordert hat, wie will er sich dann im viel brutaleren politischen Berlin durchsetzen? Kretschmann sagt, es sei gar nicht das Großstadtleben gewesen, das ihm zu schaffen gemacht habe, sondern die Vereinsamung an der Uni. Der fehlende Kontakt zu Menschen, die fehlenden Reize. Die Politik habe ihn wiederbelebt.

Und vielleicht auch der Weg zurück zu den Wurzeln. 2012 zog er zurück nach Laiz, ins Dorf, wo er aufwuchs, in ein Haus, nur wenige Minuten entfernt von den Eltern. Viele würden das als Scheitern ansehen, er selbst nennt es "Heimatverbundenheit". Acht Jahre lang arbeitete er aus dem Homeoffice für ein Schweizer Nachrichtenmedium als Onlineredakteur, bis er 2019, wie er es ausdrückt, nicht mehr "gebraucht wurde".

Seit Jahrzehnten gewinnt immer die CDU

Politisiert habe ihn die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986, da war er sieben. Grünen-Mitglied wurde er aber erst 1999. Seit 2014 sitzt er im Kreistag von Sigmaringen, seit 2019 ist er Fraktionsvorsitzender. Zurzeit lebt er vor allem von Erspartem. Die 50 Euro Aufwandsentschädigung, die er pro Sitzung bekommt, gehören zu seinen wenigen "kleinen Einnahmequellen".

Wer ihm böse will, würde sagen, der Kretschmann-Sohn habe bisher wenig eigenes geleistet und wolle sich nun mit Hilfe der Popularität des Vaters und der soliden Umfragewerte der Grünen in den Bundestag wählen lassen.

Er sieht es anders: Die Gegend hier sei "grüne Diaspora". Und die Landtagswahl, bei der die Grünen seit zehn Jahren dank seines Vaters gute Ergebnisse einfahren, nicht zu vergleichen mit der Bundestagswahl. Seit 72 Jahren hat hier nie eine andere Partei als die CDU gewonnen.

CDU gegen Grüne: Wahlplakate in Sigmaringen (Quelle: imago images)

Dass Kretschmann die Sensation gelingen könnte, er in den Umfragen so gut dasteht, liegt natürlich an der allgemein nicht besonders berauschenden Stimmungslage für die Union. Aber eben auch am CDU-Kontrahenten: Thomas Bareiß, 46, ist nicht irgendwer, sondern Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium und Mitglied im CDU-Bundesvorstand. Die Verwicklung in die Aserbaidschan-Affäre hat ihn viel Rückhalt gekostet. In Berlin, aber eben auch daheim. Nach 16 Jahren könnte der geschniegelte Bareiß sein Direktmandat gegen den Exzentriker Kretschmann verlieren.

In der vergangenen Woche trafen die beiden in Balingen aufeinander, bei einer Veranstaltung des dortigen Mittelstandsverbandes. Organisiert hat das Ganze ein örtliches IT-Unternehmen.

Kretschmann hat sich rausgeputzt, trägt jetzt Dreiteiler. Statt Krawatte eine lederne Hemdkordel mit Edelweißbrosche, auch die Kopfbedeckung hat er gewechselt, schwarzer Filzhut statt Baskenmütze. Er sieht so aus, als sei er geradewegs aus einer alten Archivausnahme aus der Anfangszeit der Grünen gepurzelt, als sie in Wollpullis und mit Blumen in der Hand mit einem Marsch durch Bonn ihren Einzug in den Bundestag zelebrierten.

Die Reise in die Vergangenheit

Als er in den Saal kommt, legt Kretschmann den Hut ab. Auch die anderen Kandidaten sind da, der von der SPD und der FDP, und platzieren sich an den Stehtischen. Bareiß, graue Hose, blaues Sakko, stellt sich demonstrativ neben den Chef der IT-Firma, Kretschmann und der junge SPD-Mann teilen sich einen Stehtisch auf der anderen Seite. Der etwas beleibte FDP-Vertreter hat einen Tisch für sich allein.

Kretschmann begrüßt die Anwesenden im Saal mit "Liebe Maskenträgerinnen und Maskenträger". Lacher. Zuvor hatte der Veranstalter die Menschen auf die Einhaltung der Corona-Regeln hingewiesen. Bei der Diskussionsrunde geht es um den Fachkräftemangel, ein Thema, das die Unternehmer hier wie überall in der Republik bewegt. Die könne man Kretschmann zufolge nur mit einer "großzügigen Einwanderungspolitik" beantworten. Das ist eine mutige Position in einem bisweilen tiefschwarzen Wahlkreis. Als weitere Maßnahme präsentiert er mehr Geschlechtergerechtigkeit, man müsse Frauen an Berufe heranführen, die bislang als reine Männersache galten.

Der Chef der IT-Firma antwortet, bei ihm im Betrieb sei das längst der Fall. Als Beweis ruft er seine Mitarbeiterinnen zu sich: "Kommt nach vorn, Mädels." Ein halbes Dutzend Frauen stellt sich wie geheißen vor die Kandidaten zur allgemeinen Beschauung.

Man fühlt sich für einen Moment um 20, 30 Jahre zurückversetzt. Und es wird klar: Sollte Kretschmann tatsächlich gegen Bareiß gewinnen, ist auch hier die gesellschaftliche Zukunft angekommen.

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