Für die nächsten Wochen sieht er eine "bittere" Phase auf uns zukommen, sagt Epidemiologe und SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach im Gespräch mit dem stern. Lesen Sie, warum er Ausgangssperren für unumgänglich hält – und welche Branchen geschlossen bleiben sollten.
- Von Sebastian Späth und Wiebke Harms
Herr Lauterbach, Sie haben sich in den letzten Monaten den Ruf erarbeitet, den Verlauf der Pandemie voraussehen zu können. Wenn wir jetzt gemeinsam in die Zukunft schauen: Was erwartet uns im Sommer?
Der Sommer wird auf jeden Fall viel besser sein als das, was jetzt kommt. Entscheidender aber sind die Wochen, die jetzt vor uns liegen. Und die werden für uns sehr bitter sein.
Warum?
Ostern werden wir uns durchhangeln. Das war keine vernünftige Lösung, die wir da gefunden hatten. Jetzt gilt zwar die Notbremse, das heißt, es wird nicht zu Lockerungen kommen. Gleichzeitig werden sich aber viele Regionen als Modellregionen definieren und mit Öffnungen experimentieren, wie wir das jetzt zum Beispiel im Saarland sehen.
Brauchen wir solche Modellversuche nicht auch, um Perspektiven zu entwickeln?
Dass jetzt immer mehr versuchen, unter dem Deckmantel eines Modellprojekts Öffnungen zu beschließen, wird das exponentielle Wachstum vorantreiben. Dann werden die Nicht-Politprojekt-Städte nur noch härtere Maßnahmen beschließen müssen, das ist die Folge. Und indem wir Pilotmodelle zulassen, nehmen wir den Schulen und Betrieben bundesweit die Schnelltests weg. Wir laufen daher ganz systematisch auf eine Überforderung der Intensivkapazitäten zu.
Weil durch die ansteckendere und gefährlichere Virus-Variante B.1.1.7 vermehrt Jüngere auf den Intensivstationen landen?
Ein 50-Jähriger stirbt auf der deutschen Intensivstation einer Uniklinik nicht so schnell. Jedoch wird er dort oft fünf bis sechs Wochen mit Covid liegen. Und es gibt gleich zwei schlechte Nachrichten. Die erste: Die Pandemie mit B.1.1.7 verläuft gerade so fulminant, dass 60-Jährige so schwer erkranken wie früher 70-Jährige. Deswegen haben wir jetzt jüngere Leute auf der Intensivstation. Die zweite schlechte Nachricht: Die Krankheit verläuft mit B.1.1.7 insgesamt schwerer. Daher liegt die Sterblichkeit nach wie vor bei 50 Prozent unter denen, die beatmet werden müssen. Das ist keine Kleinigkeit. Auch für Überlebende auf Intensivstationen nicht. Sie machen in zwei Wochen Intensivstation kaputt, was Sie in 20 Jahren Sport und guter Ernährung aufgebaut haben.
Hätten fünf Tage Osterruhe ein exponentielles Wachstum stoppen können?
Ich war von Anfang an gegen die Osterruhe, weil sie nichts weiter als ein Signal gewesen wäre. Auf das exponentielle Wachstum der Corona-Zahlen in den kommenden Wochen hätte sie höchstens einen minimalen Effekt gehabt. Und der wäre spätestens nach zehn Tagen wieder weg gewesen. Der Osterruhe-Beschluss war reine Symbolpolitik.
Und Symbolpolitik können wir uns derzeit nicht mehr leisten.
Genau. Der Beschluss wurde so gefasst, dass man den Leuten nach der Runde erzählen konnte, man habe ihnen einiges erspart. Nach dem Motto: Es ist uns gelungen, die Ausgangssperren zu verhindern, wir bekommen das mit einer Osterruhe hin – das ist ja auch ein schönes Wort. Die Alternative wäre gewesen: Man greift zu dem hässlichen Wort "Ausgangssperre" – hat dann aber nach zwei Wochen auch Erfolge zu verzeichnen.
Bei Ausgangssperren gehen weite Teile Bevölkerung aber nicht mit. Warum ist diese Maßnahme aus Ihrer Sicht dennoch unumgänglich?
Von den Bewegungsdaten der Handys wissen wir, dass die Menschen abends unterwegs sind. Zuerst in ihren Fahrzeugen, dann halten sie sich in Privatwohnungen auf, später geht es wieder zurück. Würden die Leute nur mit dem Hund um den Block laufen und eine Zigarette rauchen, müssten wir ja nicht reagieren. Aber aus den Daten können wir schlussfolgern, dass einige die Gefahrenlage missachten, zu Freunden fahren, dort eine Flasche Wein entkorken und sich infizieren. Ich habe früher noch nie Ausgangssperren gefordert. Wäre die Mutation nicht gekommen, wären wir ohne sie ausgekommen. Aber es ist einfach naiv zu glauben, dass die Leute sich abends nicht treffen und wir B.1.1.7. ohne Ausgangsbeschränkungen in den Griff bekommen.
Ist das Problem nicht eher, dass es schlichtweg nicht nachvollziehbar ist, warum Menschen sich tagsüber in Großraumbüros zur Arbeit treffen dürfen aber abends nicht privat?
Sie haben recht. Bislang konnten wir es uns vielleicht noch leisten, die Betriebe und Unternehmen von der Pandemiebekämpfung weitestgehend auszunehmen. Wegen der gefährlicheren Virusmutation reicht das nicht mehr. Jetzt müssen wir reagieren: Testen als Pflichtangebot der Arbeitgeber und abendliche Ausgangssperren, zumindest für eine begrenzte Zeit.
Warum kriegen wir es nicht hin, dass Arbeitgeber ihre Mitarbeiter verpflichtend testen müssen?
Die Union hat das nicht mitgetragen, sondern vertritt die Haltung, die Arbeitgeber müssten das erstmal freiwillig versuchen. Ich finde es rücksichtslos von den Arbeitgeberverbänden, dass die nicht selbst für die Sicherheit ihrer Mitarbeiter sorgen. Aber ich wundere mich auch über die Gewerkschaften. Einige sind kaum aktiv und wirken wie im Lockdown. Es ist doch eine ureigene gewerkschaftliche Forderung, dass Mitarbeiter geschützt werden.
Der Glanz von Angela Merkel als oberster Krisenmanagerin schwindet. Einer der Vorwürfe lautet: Sie würde sich abkapseln mit einer Gruppe schwarzsehender Experten und den Bezug zur normalen Bevölkerung verlieren.
Ich kann sagen, dass Angela Merkel sich mit Leuten umgibt, die sehr unterschiedliche Positionen vertreten, aber allesamt sehr qualifiziert sind. Man kann mit ihr detailliert über wissenschaftliche Konzepte und Studien reden. Ich schätze es, dass sie der Wissenschaft gegenüber so offen ist.
Das klingt so, als wären Sie ganz froh, dass eine Kollegin aus der Wissenschaft gerade Bundeskanzlerin ist – auch wenn sie der CDU angehört.
Ich will jetzt keinen Wahlkampf machen, aber auch Olaf Scholz ist sehr interessiert an der Studienlage. Bei ihm hätte ich ebenfalls keine Sorge. Ich denke, dass er und Merkel zumindest in dieser Hinsicht ganz ähnlich ticken.
Auch an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wächst die Kritik. Sie halten sich zurück – obwohl es einige Menschen gibt, die Sie lieber an seiner Stelle sähen.
Ich hatte mir zu Beginn der Pandemie vorgenommen, die Personen, mit denen ich eng zusammenarbeite, nicht zu kritisieren. Neben natürlich unserer Fraktion und den SPD-Ministerpräsidenten gehören dazu auch Jens Spahn genauso wie Angela Merkel und ihr Corona-Koordinator Helge Braun.
Warum gibt es bei der Durchsetzung der Notbremse so viel Ermessensspielraum für die Bundesländer? In Ihrer Heimatstadt Köln liegt die Inzidenz seit mehr als drei Tagen über 100. Trotzdem ist alles offen.
Die Notbremse ist sehr eindeutig. Auch Armin Laschet hat sich klar zu der Maßnahme bekannt. Warum er sie dann trotzdem nicht durchsetzt, müssen Sie ihn fragen. Ich finde es falsch.
Was ist denn der Sinn der Bund-Länder-Runden, wenn Dinge gemeinsam beschlossen werden – und dann, kaum ist das Treffen vorbei, viele Landeschefs versuchen, die Beschlüsse zu umgehen?
Es wird noch eine Zeitlang gut gehen, dann kommt der harte Lockdown. Die Prognose ist doch eindeutig: Entweder machen wir jetzt nochmal diszipliniert und früh einen Lockdown, der weitreichender ist als die Notbremse. Oder wir lassen es. Und müssen es dann unvermeidlich später machen, dafür aber länger. Das ist wie in der Tumorbehandlung. Da kann man auch sagen: Der Tumor wächst, aber wir operieren noch nicht. Wird das die Operation überflüssig machen? Nein.
Sicher vor dem Virus sind wir erst, wenn 80 Prozent der Bevölkerung geimpft sind, schätzt das Robert Koch-Institut. Jetzt haben gerade mal knapp fünf Prozent der Menschen eine zweite Impfung.
Aber zehn Prozent haben die erste Impfung, das ist entscheidend.
Das ist trotzdem noch weit von 80 Prozent entfernt. Der Lockdown ist das einzige Mittel, um die Fallzahlen runter zu bekommen. Wenn ich aber erst mal kein exponentielles Wachstum mehr habe, dann gibt es noch andere Mittel. Dann genügen die AHA-Regeln und ein Teil-Shutdown.
Auch mit der ansteckenderen Virusvariante B.1.1.7?
Ich glaube, dass mit B.1.1.7 gewisse Bereiche geschlossen bleiben müssen: die Fitnessstudios und Innenbereiche der Gastronomie.
Mit Curevac soll es ab der zweiten Jahreshälfte einen weiteren deutschen Impfstoff geben. Müssen wir dafür sorgen, dass dieses Vakzin stärker als das von Biontech zunächst einmal den Menschen in Deutschland zur Verfügung steht?
Wir haben gelernt, dass wir Produktionskapazitäten in Deutschland brauchen, die uns auch mit Blick auf Virusmutationen jederzeit in die Lage versetzen, mit hoher Geschwindigkeit impfen zu können. Es war richtig, dass die EU den Impfstoff besorgt hat, aber man hätte ihr dabei mehr auf die Finger schauen müssen. Man möge sich überlegen, was für ein Schub die EU bekommen hätte, wenn ihr die Impfstoff-Beschaffung gelungen wäre. Nur muss man hinzufügen: Es hat nicht geklappt. Deshalb wird die EU in diesem Punkt aus meiner Sicht keine zweite Chance bekommen.
Berechtigterweise?
Verständlicherweise.
Auf Sie prasselt viel Hass ein, Sie bekommen Morddrohungen im Internet. Glauben Sie, dass Sie nach Corona wieder ein normales Leben haben werden?
Darüber denke ich nicht nach. Ich hoffe es aber. Ich bin so gestrickt, dass ich nur darüber nachdenke, wie ich jetzt gute Arbeit machen kann. Ich will das jetzt gut zu Ende bringen, alles andere sieht man danach.
Das Jahr 2021 hielt bislang wenig gute Nachrichten bereit – was hat Sie persönlich in diesem Pandemie-Jahr Nummer zwei glücklich gemacht?
(Lauterbach schweigt und überlegt.) Mich hat es sehr gefreut, als meine 86-jährige Mutter geimpft wurde. Ich habe mich an dem Tag bei Herrn Sahin, dem Mitgründer von Biontech, persönlich bedankt. Worauf er mir dann gesagt hat, ich sehe meiner Mutter ähnlich. Was ich nicht uneingeschränkt als Kompliment werten konnte.