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Die Milchmädchenrechnung der Politik - warum die 35er-Inzidenz ein Trugschluss ist

Das erste warme Wochenende zog die Menschen nach draußen, an vielen Orten bot sich das gleiche Bild: Fußgängerzonen, Parks, Uferpromenaden, alles voller Menschen. Der Grund dafür war nicht allein die Sonne. Es war auch die Hoffnung auf Normalität, auch wenn die aktuellen Entwicklungen dafür wenig Anlass geben. 

Die Zahl der Neuninfektionen steigt wieder und mit ihnen auch die Ansteckungsrate, der sogenannte R-Wert. Bereits am Samstag gab das Robert-Koch-Institut an, dass in Deutschland 100 Infizierte aktuell wieder 107 Menschen anstecken. Der höchste Wert seit Wochen. Experten sehen eine dritte Corona-Welle anrollen. Ausgelöst durch die ansteckenderen Virus-Mutationen. Anlass für Sorge? Eigentlich schon. Deshalb verwundert es, dass die Sieben-Tage-Inzidenz als bisher wichtigster Richtwert für die Corona-Maßnahmen wackelt - und zwar mehr denn je. 


Gradmesser für die Pandemie wackelt

Wie kann das sein? Handelt es sich dabei nicht um jenen Wert, der anzeigt, wie hoch die Zahl der Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner innerhalb von einer Woche liegt? Jene Zahl also, die bislang als wichtigster Gradmesser für das Infektionsgeschehen galt und wichtigster Richtwert war für unsere Freiheit? Erst vor kurzem wurde der Schwellenwert, bei dem die ersten Lockerungen geschehen sollen, von 50 auf 35 verschärft.

Fest steht: Der 35er-Richtwert ist inzwischen umstritten. Die Frage ist: Warum? Weil die Menschen sich nichts sehnlicher wünschen als Freiheit und das Erreichen des 35er-Schwellenwerts angesichts der zunehmenden Neuinfektionen durch die Virusmutationen schlichtweg unerreichbar scheint? Oder womöglich, weil die Kopplung der Corona-Eindämmungsmaßnahmen an den Inzidenzwert von Anfang an die falsche Strategie war? Letzteres wäre ein Skandal.

An der Inzidenzwert-Frage scheiden sich aktuell die Geister. Jüngstes Beispiel für die Kritik an der 35er-Inzidenz: Berlins Amtsärzte. Jene Gruppe von Medizinern also, die auf einer amtlichen Stelle der Gesundheitsverwaltung, wie beispielsweise dem Gesundheitsamt, tätig ist. Sie forderten am Montag im "Tagesspiegel" eine neue Lockerungsstrategie , losgelöst vom Inzidenzwert. Die Amtsärzte begründen ihre Abkehr damit, dass die Inzidenz abhängig sei vom Testgeschehen und daher nicht das wirkliche Infektionsgeschehen abbilde. Die Forderung der Ärzte: Es müssen mehr Faktoren einbezogen werden, um zu lockern.


35er-Inzidenz ist längst nicht in Stein gemeißelt

Neu ist das nicht. Ausgerecht der Bonner Virologe Hendrick Streeck fordert seit langem genau das: eine Abkehr vom strikten Insistieren auf dem Inzidenzwert als Leitfaktor für wichtige Maßnahmen und Entscheidungen im Pandemiegeschehen. Doch der Leiter des Instituts für Virologie am Bonner Universitätsklinikum ist umstritten. Häufig habe er sich bei seinen Einschätzungen zu weit aus dem Fenster gelehnt und schlicht falsch gelegen, monieren Streecks Kritiker. Das medienkritische Onlinemagazin "Übermedien" titulierte Streeck jüngst gar als den "Mann, der dauernd falsch liegt, aber immer wieder als Corona-Experte gebucht wird" und unterstellte ihm gleichzeitig einen Hang zu überzogenem Sendungsbewusstsein. Dann war da noch die Causa "Heinsberg": Zur Bekanntmachung seiner Forschungsergebnisse über den Corona-Ausbruch im Landkreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen, der bundesweit als erster Corona-Hotspot bekannt wurde, hatte der Virologe mit der PR-Agentur des ehemaligen "Bild"-Chefs Kai Diekmann zusammengearbeitet.

Auch wenn Streeck in der Dauerkritik von Kollegen und anderen Experten steht: Seine aufgestellten Thesen finden nun ungewohnte Unterstützung, nicht nur durch die Berliner Amtsärzte. Vielleicht ist es auch das, was diese Krise ausmacht: Wer gestern falsch lag, kann heute recht haben.

"Ich plädiere seit letztem Sommer dafür, dass man mehr Faktoren als nur die Sieben-Tage-Inzidenz für Lockerungen ins Auge fasst. Neben der Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern, etwa auch die Hospitalisierungsrate", sagt der Bonner Virologe dem stern. Das heißt die Inanspruchnahme von Ressourcen der stationären Akutversorgung. "Auch die Belegung auf den Intensivstationen und die Möglichkeit der Kontaktnachverfolgung sollten bei Entscheidungen um Lockerungen oder Corona-Regeln mit einbezogen werden."


Ein ausschließliches Festkleben an den Neuninfektionszahlen, wie es jetzt gerade der Fall sei, kritisiert er. "Ich halte es für sehr wichtig, den absoluten Fokus von den Neuinfektionszahlen wegzunehmen", so Streeck. Zum einen aufgrund der Teststrategie, die sich seit November massiv geändert habe. "Wir haben jetzt Antigen-Tests und Selbsttests. Dadurch verzerrt sich die Positivitätsrate, da nicht wie PCR-Tests auch die Durchführung der Antigen-Tests mit erfasst wird." Zum anderen könnte man auch bei Geimpften wahrscheinlich immer mal wieder Virus-RNA im Rachen nachweisen, gibt der Virologe zu bedenken. 

Die wichtigere Frage sei doch: "Für wen ist die Infektion relevant? Das sehen wir ja jetzt auch gerade mit Hinblick auf die Reihenfolge der Impfungen." Streeck ist der Meinung: "Nicht jede Infektionszahl ist eine relevante Zahl, sondern nur dann, wenn jemand auch krank wird. Da haben wir noch keine stichhaltigen, ausdifferenzierten Zahlen. Wir wissen zum Beispiel immer noch nicht, bei welcher Zahl Covid-19-Kranker es für die Krankenhäuser und unser Gesundheitssystem kritisch werden könnte. Warum simulieren wir nicht am Computer Stresstest für unser Gesundheitssystem?"


Eins lässt der Virologe jedoch unausgesprochen: Nämlich dass auch solche Menschen, bei denen die Gefahr eines schweren Covid-19-Verlaufs gering erscheint, andere infizieren können. Ein gewichtiges Argument, solange noch nicht alle Angehörigen der Risikogruppen geimpft sind. Denn persönliche Freiheit ist in Zeiten von Corona immer auch an die Gefährdung anderer geknüpft, das ist die bittere Erkenntnis.

Dennoch: Hätten wir andere Faktoren als nur den Inzidenzwert, dann sehe die Lage vielleicht ganz anders aus. Dann gebe es vielleicht mehr Freiheit für alle im Land. Das ist zumindest das Gefühl mit dem Streeck, einen aus dem Gespräch entlässt.

Karl Lauterbach hält Lockerungen für fahrlässig

Doch wie gefährlich ist die Abkehr von der 35er-Inzidenz, die jetzt immer mehr fordern? Das soll einer bewerten, der sich in der Corona-Pandemie den Ruf eines "Wahrsagers" erarbeitet hat. Der Großteil der Aussagen, die SPD-Gesundheitspolitiker und Epidemiologe Karl Lauterbach über die Entwicklung des Infektionsgeschehen getroffen hat, habe sich bewahrheitet, sagen seine Unterstützer. Kritiker dagegen sehen im ehemaligen Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie an der Uni Köln einen Hardliner, einen der die Menschen am liebsten für immer wegsperren würde. 

Als Streeck und Lauterbach sich Ende Januar in der Talk-Show von Sandra Maischberger gegenüber saßen, führte die Moderatorin die zwei Experten quasi als Kontrahenten ein, als "die beiden Männer, die wie keine anderen für die unterschiedlichen Herangehensweise in der Pandemie stehen". 


Freitagnachmittag vergangener Woche. Ein Anruf bei Lauterbach. Der Epidemiologe sah schon da kommen, was sich jetzt zeigt: Die Zahlen steigen wieder. Zwar sprach Lothar Wiehler, der Präsident des Robert-Koch-Instituts, am vergangene Freitag in der Pressekonferenz lediglich von einem "Plateau" , also davon, dass sich der Trend sinkender Inzidenzzahlen nicht fortsetzt. Lauterbach sah hingegen etwas anderes. "Das sind die Zahlen von vor 10 Tagen. Ich habe mir heute die aktuellen Neuninfektionszahlen für Köln vom hiesigen Gesundheitsamt geben lassen. Sie gehen nach oben." Lockerungen, so der SPD-Politiker, seien unter diesem Gesichtspunkt "fahrlässig".

Lauterbach gesteht, das Umschwenken auf den 35er-Inzidenzwert sei bei der Präsentation der letzten Ergebnisse des Bund-Länder Gipfels "schlecht erklärt worden". Wahr ist: Viele fühlten sich von der Einführung des 35er-Werts als neue Schwelle für die ersehnten Lockerungen schlichtweg überrumpelt. War doch monatelang die 50 die magische Zahl. Und schien sie zuletzt so gut wie erreicht.

Lauterbach erklärt: "Wir haben ansteckendere Virusvarianten, wenn wir jetzt die gleiche Sicherheit wollen, dann müssen wir den Schwellenwert anpassen und bei einer niedrigeren Neuinfektionszahl ansetzen." Er bringt es auf die einfach Formel: "35 ist das neue 50, weil das Virus gefährlicher geworden ist". Außerdem verweist der Gesundheitspolitiker auf Baden-Württemberg, wo die Neuinfektionen sequenziert werden, um zu analysieren, wie hoch inzwischen die Zahle der Menschen ist, die sich mit den neuen, aggressiveren Virusvarianten angesteckt haben. "Der Anteil der Virusmutationen steigt, während wir den Wildvirus im Griff haben", so Lauterbach. "Doch irgendwann Ende März werden die aggressiveren Typen so weit verbreitet sein, dass wir einen deutlichen Anstieg der Neuinfizierten erleben werden." Dann sagt er noch: "Es ist wie immer: Wissenschaftler erklären, das Virus wird zeigen." Ein Satz, der nachhallt. 

SPD ist sich nicht einig

Doch auch Lauterbachs Partei, die SPD ist uneinig: Unlängst hat sein Partei-Kollege Michael Müller, Berlins regierender Bürgermeister und aktuell Vorsitzender der Ministerpräsidenten-Konferenz, einen bundesweiten Stufenplan für Lockerungen erarbeiten lassen, der weitere Faktoren neben dem Inzidenzwert berücksichtigt. Zudem erklärte Johannes Fechner, der rechtspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, im "Spiegel", fast alle EU-Staaten hätten weitere Kriterien. "Die brauchen wir auch. Außerdem muss viel klarer sein, was wann eingeschränkt werden darf." Auch FDP-Chef Chef Christian Lindner konstatierte jüngst gegenüber dem "Spiegel":  Das Raster der Inzidenzen von 35 und 50 sei "längst zu grob". Auch seine Partei hat bereits einen Stufenplan erarbeitet, bei dem der Fokus nicht allein auf der Sieben-Tage-Inzidenz liegt.

Müllers Papier jedenfalls soll auf dem kommenden Bund-Länder-Gipfel am 7. März diskutiert werden. Es wird dann wohl ein Entscheidungstag für den Inzidenzwert.

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