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Tim Bengel: Der Sandmann

Berkheim, ein Stadtteil von Esslingen, 17 Kilometer entfernt von Stuttgart. "Ein Ort mit über 800-jähriger Tradition und aktivem Vereinsleben", steht auf einem Schild am Straßenrand. Die Gegend hier ist schwäbisches Idyll und zugleich hoch industrialisiert. Weltmarktführer für Automatisierungstechnik, stolze Automobilhersteller und deren Zulieferer arbeiten im Umkreis.

Hier hat Tim Bengel sein Atelier. Die Lokalblätter bezeichnen den inzwischen 28-Jährigen als "Goldjungen" und "Wunderkind". Für die Leute aus der Gegend ist er ihr Mann in New York. 2017 hatte er dort eine Ausstellung - zwar fand die in einer dubiosen Galerie statt, aber: Manhattan! Als Bengel im vergangenen Jahr seine Bilder in der Kreissparkasse Esslingen zeigte, standen die Leute mehrere Häuserblocks lang Schlange, um ihn zu sehen, den Musterknaben aus dem "Musterländle".

Bengel wurde über Nacht nahezu weltberühmt. Mit einem einzigen Internetvideo, das ihn in seinem 16-Quadratmeter-Jugendzimmer zeigt. Er teilte das Video auf Facebook und die US-Nachrichtenseite Business Insider griff es auf. Da war er 24 Jahre alt, ein Autodidakt, der nie eine Kunsthochschule besucht hat. Er macht Schüttbilder aus Sand, nennt sie "Collagen". Das geht so: Er schießt Fotos von Landschaften, Stadtansichten, der Natur oder Menschen und zeichnet die Motive mit Industriekleber auf Alu-Dibond-Platten. Ob er dazu eine Schablone benutzt oder einen Beamer, will er geheim halten. "Wenn es so einfach wäre", sagt Bengel, "hätte es doch schon längst jemand nachgemacht." Dann streicht er Sand auf den Kleber und setzt Akzente mit Blattgold. Wenn er das Bild aufrichtet, rieselt der überschüssige Sand herunter. Die Staubwolke verzieht sich, sein Werk ist getan. Dabei zuzugucken, ist unterhaltsam. Ob das Ergebnis Kunst ist, das ist eine andere Frage. 500 Millionen Leute hätten seine Sandperformance schon gesehen, behauptet Bengel. Heute kosten seine Bilder bis zu 80.000 Euro.

Nicht gerade bescheiden

Den letzten Arbeitsschritt, also die Enthüllung des Motivs unter dem Sandschleier, vollzieht er zu besonderen Anlässen vor Publikum, auf seinen Vernissagen, zuletzt auch bei der Eröffnung eines Berliner Krankenhauses für Altersmedizin. "Vor Ärzten aus ganz Europa", sagt Bengel. Ohne diese Show ist es kein echter Bengel - der Versuch, die Sandbilder in limitierter Auflage nachzudrucken und zu verkaufen, stieß auf sehr geringe Nachfrage.

Man kann sich denken, dass der etablierte Kunstbetrieb dieses Sandgestöber nicht ernst nimmt. Doch Bengel ist davon überzeugt, ihn ausgetrickst zu haben. Die Machtverhältnisse auf dem Markt haben sich in den vergangenen Jahren radikal geändert. Längst bestimmen nicht mehr nur Kuratoren, Galeristinnen, Museumsdirektoren und Kritikerinnen, was als Kunst gelten soll, sondern Instagram-Follower, Fernsehsender und Marketingabteilungen großer Unternehmen. Neben dem elitären Markt hat sich ein zweiter etabliert: Hier stellen Internetphänomene neue Regeln auf. Tim Bengel ist dort ein nationaler Champion. Mindestens.

Trotz des ganzen Hypes ist er nahbar geblieben. Sein Atelier befindet sich über einer Lagerhalle, die er vor Kurzem dazu gemietet hat. Es soll ein Showroom entstehen, doppelt so groß wie seine Arbeitsräume. Für seine eigenen Bilder und für seine Kunstsammlung. Auf Social Media konnte man das Projekt verfolgen. Studio Berkheim hat er die alte Halle getauft und auf in der Kategorie "Museum für moderne Kunst" aufgeführt. Nicht gerade bescheiden.

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