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Artikel

Über Freundschaft in Zeiten von Corona

Zur Kulturgeschichte eines subversiven Gefühls

Von Sebastian Schoepp

Die Freundschaft war stets über alle
Zweifel erhaben. Seit der Antike
wird sie als edles, großes Gefühl ge-
priesen, Aristoteles sah in ihr einen Pfeiler
des Staates, der Shakespeare-Freund Ed-
mund Spenser eine „universelle Kraft“, die
den Boden bereite, „damit Harmonie nicht
nur Menschen zusammenbringt, sondern
Gemeinwesen, Staaten, ja das ganze Uni-
versum zusammenhalten kann“. Die Sozio-
logie schreibt ihr eine Bedeutung für den
Menschen zu, die nicht in die bestehenden
familiären Strukturen passt. „Aus dem un-
konventionellen Lebensstil, den die
Freundschaft ermöglicht, entsteht nicht
selten die Triebkraft für sozialen Wandel“,
meint die Feministin Marilyn Friedman.
Alles hin durch Corona? Das Funda-
ment der Gesellschaft in Gefahr? Solange
die Ansteckungskurve so rasant ansteigt
wie inden vergangenen Wochen und Mona-
ten und Kontaktbeschränkungen als wich-
tiges Mittel der Pandemiebekämpfung gel-
ten, ist die Freundschaft, wie wir sie ken-
nen, nur noch schwer praktizierbar. Plötz-
lich haftet ihr etwas Subversives an. Wer
sie über die aseptischen digitalen Kanäle
hinaus pflegt, setzt sich dem Vorwurf aus,
der Ausbreitung einer todbringenden
Krankheit Vorschub zu leisten.
Aber das Bedürfnis nach Nähe lässt sich
auch von dieser drastischen Argumentati-
on nicht auslöschen. Man konnte es den
jungen Menschen ansehen in den Wochen
vor dem zweiten Lockdown, an düsteren
Herbstabenden in den Parks. Sie trafen
sich schüchtern in Grüppchen, die Gesich-
ter blau erleuchtet vom Display der Han-
dys, die allein keinen Ersatz für die physi-
sche Nähe der Freunde und Vertrauten zu
bieten schienen. Rollte eine Polizeistreife
vorbei, so lösten die Grüppchen sich auf,
um danach wieder geisterhaft zusammen-
zuschweben, wie ein Ballett, das von Liebe
und Verfolgung erzählt. Für Ältere geraten
soziale Fortschritte ins Wanken. Wer sei-
nen Lebensstil auf der Wahlfamilie aus gu-
ten Freunden aufbaut, wie es seit den fami-
lienskeptischen Achtzigerjahren viele ta-
ten, wird nun mit „sozialer Deprivation“ be-
legt, wie es im Fachjargon heißt.
Urmenschliche Bewältigungsstrategien
werden von sozialer Distanz auf den Kopf
gestellt. In Kriegen und Katastrophen seit
der Pest waren freundschaftliche Handlun-
gen stets erste Wahl bei der Überwindung
von Not. Man saß im Luftschutzkeller ne-
beneinander, umarmte sich, trocknete die
Tränen auf dem Gesicht des anderen. Sind
Teams-Konferenzen und Zoom-Partys ein
Ersatz für Nähe? Daran scheinen nicht ein-
mal die digital-affinen Millennials zu glau-
ben.
Die durch Corona erzwungene Redukti-
on von Kontakten auf Ehegatten, Nichten
und Tanten katapultiert uns zurück in das

Familienbild der Fünfziger, was allenfalls
den konservativsten Kräften in der CSU ge-
fallen dürfte. Eine überwältigende Mehr-
heit erachtet Freundschaften hingegen kei-
neswegs als verzichtbaren Luxus. Laut ei-
ner Allensbach-Umfrage vom August 2020
halten 85,4 Prozent der Deutschen gute
Freunde und die Beziehung zu anderen
Menschen sogar für besonders erstrebens-
wert, sie haben für sie allerhöchste Priori-
tät, noch vor der Familie. Trotz allen Bemü-
hens um seuchentechnische Einsicht
wünschte man sich daher manchmal, Ent-
scheidungsträgern wie dem griesgrämi-
gen Tierarzt an der Spitze des Robert-Koch-
Institutes wäre eine gleichberechtigte
Psychiaterin zur Seite gestellt. So gäbe es
vielleicht wenigstens die Chance, die seeli-
schen Auswirkungen der Isolation in den
politischen Empfehlungs- und Maßnah-
menkatalog einzuarbeiten – etwa, wenn ei-
ner Generation von Kindern vermittelt
wird, Freundschaften brächten etwas Töd-
liches und daher Unmoralisches mit sich.
Allerdings steht die Moral durchaus
„häufig im Widerspruch zu unserer Liebe
für unsere Freunde“, wie der griechisch-
amerikanische Philosophie-Professor
Alexander Nehamas schon lange vor Coro-
na festgestellt hat. Und war es nicht beim
Treffen mit alten Kumpels in der Tat stets
der größte Spaß, sich halblegaler Abenteu-
er zu erinnern, die einander zusammen-
schweißten – etwa, wie man damals beim
Mopedfahren ohne Führerschein die Poli-
zei austrickste? Nicht umsonst wird das
Pferdestehlen sprichwörtlich als Beweis
für Freundschaftstauglichkeit herangezo-
gen – obwohl es sich ähnlich wie bei Coro-
na-Verstößen selbstredend nicht um ein
Kavaliersdelikt handelt.
Nicht auszuschließen, dass sich Genera-
tionen von Freunden später erzählen wer-
den, wie sie damals im Lockdown nachts
an den Weihnachtstagen durch den Wald
zu ihren Freunden schlichen, um „diese al-
les durchdringende, dabei gleichmäßige
und wohlige Wärme“ zu genießen, die von
der Freundschaft ausgeht, wie Michel de
Montaigne es ausdrückte. Im gepeinigten
Spanien, wo der analoge Kontakt womög-
lich noch wichtiger genommen wird als in
anderen Teilen Europas, war es während
des confinamiento im Frühjahr ein gängi-
ger Trick, einen Sack Müll als Ausrede
durch die Stadt zu schleppen, um die
Freundin zu besuchen. Man sei auf dem
Weg zum Container, hieß es, wenn die
Guardia einen erwischte.
Dass subversive Absicht sogar konstitu-
ierend sein kann für Freundschaften, be-
weist Schillers „Bürgschaft“: „Zu Dionys,
dem Tyrannen, schlich Damon, den Dolch
im Gewande“, heißt es da; Damon will „die
Stadt vom Tyrannen befreien“. Die Hä-
scher jedoch erwischen ihn, er soll sterben.
Damon bittet den König um die Erfüllung
eines letzten Wunsches, er will vor seinem
Tod noch an der Hochzeit seiner Schwester
teilnehmen. Sein bester Freund bietet sich
als Bürge an. Damon macht sich auf die Rei-
se, trotzt allen Gefahren und kehrt in letz-
ter Sekunde zurück, um den Freund auszu-
lösen. Der Tyrann ist von diesem selbstlo-
sen Akt der Freundschaft so beeindruckt,
dass er nicht nur Damon begnadigt, son-
dern auch bittet, als Dritter in den aufopfe-
rungswilligen Bund aufgenommen zu wer-
den. Generationen von Schülern mussten
Schillers Ballade von der Tyrannenbekeh-
rung durch Freundschaft auswendig ler-
nen – vielleicht sollte man sie nun aus dem
Lehrplan nehmen, weil sie subversives Ver-
halten bis hin zum Tyrannenmord fördert?
Verdächtig ist die Freundschaft jeden-
falls schon lange.Seit Entstehen des Markt-
kapitalismus im 19. Jahrhundert gilt die Be-
günstigung von Freunden in Politik und
Geschäftsleben als korrupt. Einzig Leis-
tung soll für das Fortkommen verantwort-
lich sein, nicht etwa Amigo-Methoden. Al-
lerdings ging dieser Moralkodex vom pro-
testantischen Norden aus und wurde im
südlichen Teil der Welt stets mit Argwohn
betrachtet. In Südeuropa, Asien oder La-
teinamerika gilt Freundschaft unverdros-
sen als Form der emotionalen Absicherung
in Geschäft und Politik.
Wie lange können wir auf sie verzich-
ten? Wird die Freundschaft, wie wir sie
kannten, das soziale Experiment Corona
und die daraus entstehenden gesellschaft-
lichen Neuschichtungen überstehen? Je-
der Lockdown ist ja ein Druck auf die Pau-
sentaste – nicht nur des Infektionsgesche-
hens, sondern auch der sozialen Beziehun-
gen. Bis die Musik wieder spielt, muss
wohl gelten, was Carole King einst in dem
wohl schönsten Lied über Freundschaft
sang: „Wenn’s dir richtig dreckig geht,
schließ deine Augen und denk an mich.“

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