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Grosse Träume auf dem zersägten Berg

Die Geschichte der katalanischen Unabhängigkeit begann mit einem schadhaften Kanalrohr. Das Dorf Arenys de Munt in den Hügeln des Maresme nordöstlich von Barcelona hat - wie viele hier - eine baumbestandene Rambla, eine schmucke Geschäftsstrasse. Unter der Rambla verläuft eine Riera, ein verrohrter Wasserlauf. Das Rohr ist oft zu klein für die sintflutartigen Regenfälle, die im Herbst die Strasse in einen Sturzbach verwandeln. Schon vor Jahren tobte deshalb ein Streit in der Gemeinde, wie der Kanal saniert werden könnte, ohne dass die Platanen Schaden nähmen. Man tat, was man in Arenys de Munt immer tut, wenn es Grösseres zu entscheiden gibt: Man veranstaltete eine Volksbefragung.

Wie es dann dazu kam, dass die Idee mit der Abstimmung über den Kanal dazu führte, dass Arenys de Munt als erstes Dorf Kataloniens seine Unabhängigkeit von Spanien erklärte und Vorreiterin dieser ganzen Bewegung wurde, versucht Carles Móra in einem Frühstücks­café an der Rambla zu erklären. Er war damals Bürgermeister, und wenn man ihn nach dem Jahr 2009 fragt, sprudeln seine Worte wie die Riera: "Das war eine Stimmung, Sie können es sich nicht vorstellen, bewegend, mitreissend!" Alte, Junge, Kranke, Behinderte kamen an die Urnen: "Da waren 90-Jährige, die haben geweint." Móras Augen werden feucht, als er an den Augenblick denkt, als Arenys de Munt zur Legende wurde.

Móra ist ein herzlicher Mensch, ein mediterraner, vitaler, empathischer Typ. Seit er nicht mehr im Amt ist, hat er sich die Haare wachsen lassen, der 62-Jährige sieht jetzt ein wenig aus wie ein Späthippie. Damals, als Bürgermeister, stellte er eine Rechnung auf und kam zu dem Ergebnis, dass Madrid an dem Kanalproblem schuld sei. "Wir überweisen viel mehr Geld dorthin, als wir zurückbekommen." Madrid ist eben Madrid, für Katalanen heisst Madrid: Langsamkeit, Korruption, Ineffizienz. Da kam Móra auf die Idee: Wäre es nicht besser, wir verwalten uns selbst?

Jubel in Barcelona nach der Unabhängigkeitserklärung am 27. Oktober. Foto: Getty

Er stellte die Frage zur Abstimmung und gewann. Das war zwar illegal, aber egal, "die zuständige Generalstaatsanwältin liess uns machen". Man nahm das katalanische Asterix-Dorf, wie Arenys de Munt von da an in der Presse apostrophiert wurde, nicht ernst. Das war ein Fehler. Carles Móra wurde Prediger in Sachen Independentismus. Er reiste durch Katalonien und überzeugte andere Gemeinden davon, es wie er zu machen. "Es war grossartig", erinnert er sich. Ein eisiger Winter, überall standen die Leute eingemummt an den Kastanienfeuern. "Wir haben diskutiert, es herrschte Aufbruchsstimmung." Er wurde auch angefeindet, von Rechtsextremen, bekam einen Leibwächter. Er nahm das in Kauf: "Man hätte überall weinen können vor Begeisterung." Am Ende kamen Hunderte Dörfer zusammen, die sich für unabhängig erklärten, die meisten in den grünen Hügeln des Hinterlandes.

Der Separatismus ist eher eine Angelegenheit der Berge als des Meeres. Er ist in Provinzstädten wie Girona oder Vic zu Hause. An der Küste, in Barcelona oder Tarragona, sieht man die Sache gelassener, vielleicht hat das mit Weite und Begegnungskultur zu tun. Arenys de Munt hat ein Schwesterdorf unten an der Küste, Arenys de Mar, was übersetzt "Sand am Meer" heisst. Da hat der Separatismus auch Anhänger, aber für unabhängig erklärt hat man sich dort nicht.

Jetzt geht es nur noch um die Unabhängigkeit

Es erinnert ein wenig an die alte Fernsehwerbung mit den Dörfern Villarriba und Villabajo. Beide kochen Paella in einer Riesenpfanne, aber weil Villarriba das bessere Spülmittel hat, kann man dort oben schon wieder feiern, während unten noch geschrubbt wird. Übertragen könnte man sagen: Als in Arenys de Munt schon der Stern der Unabhängigkeit leuchtete, waren sie unten in Arenys de Mar noch Sklaven des Imperiums.

Wer durch Arenys de Munt läuft, muss zugeben, dass Separatismus offenbar der Gemütlichkeit nicht schadet. Es ist ein Ort, in dem man sich auf Anhieb wohlfühlt. Die Geschäftsstruktur ist kleinteilig, mit einem bunten Angebot an hübsch hergerichteten Bäckereien, Obstläden, Metzgereien und Cafés. Es gibt einen Hundefriseur und ein nettes Geschäft für Seniorenkleidung. Auch die Waldbrandgefahr hat man im Griff, Arenys de Munt ist eingebettet in saftige Pinienwälder. Es gibt mehr als neunzig Vereine, ein reges Gemeinwesen, in dem fast jeder mitmacht, die öffentliche Debatte, die Abstimmungen und Versammlungen werden ernst genommen, Politik als Mittel sozialer Einbindung - gelebte Basisdemokratie.

Weil das in Katalonien überall so ist, bereitet es auch kein Problem, 400'000 Leute für eine Demo zu mobilisieren. "Das ist unsere Kultur", sagt Carles Móra. Früher fuhr man hinunter nach Barcelona, um gegen den Irak-Krieg, gegen den Lissabonner EU-Vertrag, gegen die Sparpolitik zu demonstrieren. Jetzt geht es nur noch um die Unabhängigkeit, denn die, so das katalanische Credo, löst alle anderen Probleme gleich mit. Katalonien etwa würde nie in einen Krieg ziehen, "wir sind friedlich wie Gandhi", sagt Carles Móra. Und stimmt es nicht? Als die ganze Region es am 1. Oktober Arenys de Munt nachmachte und illegalerweise über die Unabhängigkeit abstimmte, waren es die Polizisten aus Madrid, die die Knüppel rausholten.

Fast eine Religion

Über die Separatisten in Arenys, in Girona, Barcelona oder Montserrat kann man eines sagen: Es sind furchtbar nette Leute, keine finsteren Kapuzenträger wie früher die Separatistenkollegen aus dem Baskenland, sondern brave Bürger von nebenan, Lehrer, Professoren, arrivierter Mittelstand. Viel weisses Haar und viele graue Bärte, wie bei den beiden Aktivisten der Independentisten-Dachorganisationen, Jordi Cuixart und Jordi Sánchez, die wegen Aufwiegelei festgenommen wurden und nun in Madrid im Gefängnis sitzen. Arenys de Munt hängt voller Schriftzüge, die die Freilassung der "politischen Gefangenen" fordern. "Man nimmt Leute fest, die Demonstrationen organisieren, aber die Korrupten von der PP, die laufen frei herum", sagt Carles Móra. Das empört in Katalonien alle, Junge wie Alte, Engagierte wie bislang Gleichgültige, es ist eine Koalition entstanden, die Linke, Konservative, Aktivisten, Hausbesetzer, Ökologen, Bürger, Lehrer, Unternehmer, Bürgermeister umfasst.

Sie haben einen gemeinsamen Feind: Die PP - die von Skandalen geschüttelte spanische Volkspartei von Regierungschef Mariano Rajoy, die einst aus den Resten der Franco-Diktatur entstand, die vor Jahren schon das katalanische Autonomiestatut torpedierte und deren früherer Chef José María Aznar eine Militärparade auf der Diagonal in Barcelona veranstalten wollte, über die 1939 die Truppen Francos einmarschiert waren.

Carles Móra nimmt so etwas ernst. Er ist Veteran des Widerstands. Als junger Mann half er Mitte der Siebzigerjahre, ein Franco-Denkmal im Dorf abzuräumen. Der Separatismus hat altlinke Träume einer egalitären Gesellschaft wach werden lassen, Antikapitalismus mischt sich mit Establishmentkritik, da machen auch junge Katalanen gerne mit. Móra spricht von einer Gesellschaft ohne Privilegien, von einem Land, das nicht von Konzernen regiert wird, sondern von der Gemeinschaft. In Arenys macht man das vor: Bürgermeister ist man dort nur eine Periode lang, Ehrensache. Móra verzichtete auf einen Teil seines Gehalts, half, wo er konnte: "Das Amt hat mich privat 70'000 Euro gekostet."

Man möchte ihn für einen Augenblick umarmen, wenn er so redet: deswegen, weil man so eine gerechte, gemeinsinnige Welt auch gern hätte; und aus Mitgefühl und Traurigkeit, weil man weiss, dass es eine Illusion ist und die Welt in die entgegengesetzte Richtung marschiert.

Kaum jemand in Europa versteht Katalonien, weil neue Grenzen wie ein Anachronismus wirken. Katalanen antworten dann: Aber wir sind gute Europäer, wir sind ja eben nicht die Lega Nord, sondern wir sind für eine integrative Gesellschaft. Ihr mediterraner Optimismus ist manchmal ihr grösster Feind, er überdeckt die lästige Realität wie eine riesige Estelada, die Flagge der Katalanen. Dass die EU nicht mal redet mit Barcelona? Carles Móra sagt: Andere Länder seien doch auch von der EU nach einer Abspaltung anerkannt worden. Welche? "Ach, weiss ich jetzt auch nicht, ich schick Ihnen nachher einen Link."

Um diese quasireligiöse Beseeltheit zu verstehen, muss man tiefer in die Geschichte Kataloniens eintauchen: Es gibt hier Gedenkorte wie Sand am Meer: Nuria hoch oben in den Pyrenäen, wo die erste Autonomie-Erklärung entstand; Sant Boi de Llobregat, wo Rafael Casanova starb, der Verteidiger Barcelonas von 1714 im Kampf gegen die Madrider Bourbonen; die vielen Strassen, die nach Lluís Companys benannt sind, der 1934 die Unabhängigkeit Kataloniens ausrief und später von Francos Falangisten hingerichtet wurde. Kaum irgendwo gilt das Wort von William Faulkner so wie in Katalonien: Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht mal vergangen.

Der Ursprung von allem liegt auf dem zersägten Berg. Wer Katalonien verstehen will, muss ihn erklimmen. Er steht östlich von Barcelona, ein Sedimentgebirge mit rundlichen Kegeln, die die Erosion ausgewaschen hat. Der Legende nach wurde Montserrat von Engeln in Form gesägt. Er sieht von weitem aus wie ein zackiges Zauberland, das Kloster in den Felswänden ist tagsüber voller Touristen, aber in diesen kühlen Herbstnächten ist es ein Paradies des Friedens und der Einkehr. In den dichten Wäldern zwitschern die Vögel, es gibt Einsiedeleien, man hört den Gesang der Mönche, die Choräle komponieren und einen berühmten Knabenchor anleiten.

Wer ist das Volk?

Auf dem zersägten Berg ist seit mehr als tausend Jahren die Weisheit Kataloniens zu Hause. Es gibt eine riesige Bibliothek, eine bedeutende Kunstsammlung. Es ist noch nicht lange her, da gehörte es zum guten Ton, mindestens einmal pro Jahr nach Montserrat zu pilgern. "No és ben casat qui no porta la seva dona a Montserrat" - gut verheiratet ist nur, wer seine Frau nach Montserrat bringt - und den Segen der schwarzen Madonna abholt. Manche verstreuen hier oben die Asche ihrer Verstorbenen.

Nicht nur, dass im Benediktinerkloster Dokumente der Kodifizierung der katalanischen Sprache niedergelegt sind. Zur Franco-Zeit, als ihr schriftlicher Gebrauch verboten war, hielten die Mönche Gottesdienst auf Català, ein Akt des Widerstands. In Montserrat versteckten sich Oppositionelle, Francos Polizei traute sich nicht her.

Zwei Dutzend Mönche leben noch hier, die Altersstruktur ist bunt, das intellektuelle Niveau hoch. Es gibt den Medizinerpater Ignasi Fossas, den Kunsthistoriker Josep de Calassanç Laplana, den Organisten Ramón Oranias, der gerne klettern geht und deshalb schon mal ein Gebet verpasst. Alle sind katalanischsprachig, manche sind prononcierte Katalanisten, wie die Padres Sergi d'Assís oder Hilari Raguer, die fleissig twittern und bloggen. Kurz vor dem von Madrid untersagten Referendum am 1. Oktober liess sich eine Gruppe Mönche vor dem Kloster mit dem Transparent fotografieren: Volem votar! Wir wollen wählen! Das hat Eindruck gemacht.

Seitdem aber schweigt der Berg. Abt Josep María Soler hat silenci verordnet. Man will keine Tagespolitik machen. Also ist Kommunikationsdirektor Òscar Bardají derzeit der Einzige hier oben, der spricht. Normalerweise hat er einen ruhigen Job, nimmt morgens die Zahnradbahn hinauf, bezieht sein Büro mit Blick auf den gotischen Kreuzgang, beantwortet Fragen zu ekklesiastischen Themen. Was für ein Leben. Doch zurzeit hat Bardají alle Hände voll zu tun; Presseanfragen aus der ganzen Welt trudeln ein, was ihn nicht verwundert: "Montserrat ist Schild und Schwert der katalanischen Kultur!"

Entsetzt von der Härte Madrids

Sein Schild besteht aus zwei Blatt eng beschriebenen Papiers, auf dem er die letzte Äusserung des Abtes in der Sache notiert hat: Aus dem Streit dürfe niemand gedemütigt herausgehen. Das ist wenig, aber genug, um herauszuhören, auf welcher Seite der Abt steht, denn die Gedemütigten, das sind aus katalanischer Sicht die Katalanen, wie auch Bardají betont: "Die Knüppel hat Madrid." Und die Kirche, so findet der Kommunikationschef des Benediktinerklosters, "muss auf der Seite des Volkes stehen". Doch wer ist das Volk? Sind das die, die der Unabhängigkeit skeptisch gegenüberstehen, geschätzt etwa die Hälfte der Menschen, die in Katalonien leben? Oder die steigende Zahl derer, die ihre katalanistische Seele entdecken und die wahrscheinlich eine separatistische Partei wählen würden?

Eine aus dem Volk ist Anna Mitja. Wir treffen sie in Arenys de Mar, wo sie aus dem Vorortzug aus Barcelona steigt. Sie begreift sich als normale Bürgerin, nicht als Aktivistin. Sie ist alleinerziehende Mutter, hat eigentlich keine Zeit für Politik. Natürlich hilft sie gerne bei Veranstaltungen in Arenys de Munt, verteilt Broschüren, und natürlich fährt man alle Jahre am 11. September, dem katalanischen Nationalfeiertag, zur Grossdemonstration nach Barcelona. Das war lange Folklore, doch nun ist es mehr. Anna Mitja ist wie die meisten hier entsetzt von der Härte Madrids.

Sie arbeitet in Barcelona in der Rechtsabteilung eines Versicherungskonzerns, dort wird Castellano, also Spanisch, gesprochen, daran habe sie sich anfangs sehr gewöhnen müssen, sagt die 38-Jährige. Sie habe sich als Fremde im eigenen Land gefühlt. Spanierin sei sie auf keinen Fall. Sie wolle einen katalanischen Pass. Was der Separatismus denn sei? Anna Mitja antwortet etwas, das man hier oft hört: "Es ist ein Gefühl." Aber ist es ein Gefühl wert, den Euro, den Wirtschaftsstandort, aufs Spiel zu setzen? Der Konflikt mit Madrid ist derart eskaliert, dass auch eine nicht fanatisch wirkende Frau wie Anna Mitja nun plötzlich mit Ja antwortet.

"Nein, Nein, Nein" aus Madrid

Joan Rabasseda ist Bürgermeister in Arenys de Munt. Er verströmt nicht so den Charme des altlinken Visionärs wie sein Vorgänger Móra. Rabasseda ist ein eher zackiger Typ mit Glatze, klare Augen, klare Ansagen, voller Terminkalender. Ob er Independentist ist? Sein Blick sagt: Was denken Sie denn? Im Gemeinderat sind 11 von 13 Leuten für die Unabhängigkeit. "Es wäre sehr schwierig, hier Bürgermeister zu sein, ohne Independentista zu sein." Unten im Gemeindebüro hängt ein Zettel: "Leider sind wir gesetzlich gezwungen, die spanische Fahne aufzuhängen." Man sieht aber keine.

Joan Rabasseda haut ein paar Zahlen auf den Tisch: "Wir tragen 23 Prozent des Steueraufkommens Spaniens und erhalten 15 Prozent zurück." Für seine Gemeinde heisse das: "Jedes Jahr zahlt eine vierköpfige Familie von Arenys 10'000 Euro mehr Steuern an Madrid, als zurückkommen." In der Tat sind staatliche Zuweisungen der grösste Posten im kommunalen Haushalt. Seit 2006 verhandle man über den Finanzausgleich: "Aber aus Madrid kam immer nur Nein, Nein, Nein." Jetzt reiche es. Zwar hat der spanische Finanzminister Cristóbal Montoro kürzlich ein Einlenken angekündigt. Aber dafür ist es zu spät.

Arenys de Munt ist nicht arm, im Gewerbegebiet sind alle Hallen belegt, es gibt Textilindustrie, hier wurden die T-Shirts gefertigt, die für ein "Si" im Referendum warben. 14 Prozent beträgt offiziell die Arbeitslosigkeit, für Spanien ist das wenig. Doch trotzdem liegt vieles im Argen. Ein Teil der Rambla ist ohne Asphalt. "Was könnten wir alles machen, wenn das Geld bei uns bliebe!", sagt Bürgermeister Rabasseda. (Tages-Anzeiger)

Erstellt: 27.10.2017, 22:11 Uhr

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