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Als die Nazis Mallorca eroberten

Alexander Sepasgosarian kann sich noch genau erinnern, als die 91-jährige Lore Krüger auf den Friedhof von Palma kam. "Eine zierliche weisshaarige Dame mit winzigen Füssen." Es war kalt auf Mallorca an jenem Märztag 2004, Lore Krüger trug eine hellblaue Jacke, als sie zum Grab ihrer Eltern ging, das sie mehr als sechzig Jahre nach deren Tod zum ersten Mal sehen würde. Nur ein Datum steht darauf, Irene und Ernst Heinemann starben am selben Tag. Es war der 24. Juli 1940. Sie schluckten Schlaftabletten, weil sie Angst hatten, dass das faschistische Spanien sie an die Nazis ausliefern würde. "Ich kann nicht mit ansehen, wie Mutti in ihrem kranken Zustand zu Tode gequält wird", schrieb der 61-jährige Ernst Heinemann an seinem Todestag in einem Abschiedsbrief an seine Tochter Lore. Sie hatte sich in Frankreich dem Widerstand gegen die deutschen Besatzer angeschlossen.

Dass Lore Krüger überhaupt noch mal das Grab ihrer Eltern sehen würde, in dieser entlegenen Ecke des Friedhofs mit Blick auf die Berge hinter Palma, das hatte sie dem Historiker und Journalisten Alexander Sepasgosarian zu verdanken. Er hatte es in dem Teil des Friedhofs von Palma entdeckt, in dem Protestanten, Selbstmörder und Juden in nicht geweihter Erde begraben liegen, wie das früher üblich war im katholischen Spanien.

Auf dem Friedhof sind alle vereint

Es war ein bewegender Moment für Sepasgosarian, den Chronisten Mallorcas, als die alte Frau auf Mallorca eintraf, mit ihrer Urenkelin, die nach jüdischer Tradition Steine auf den Grabstein legte. Aus Dokumenten, Fotos und Zeitzeugenberichten hat er ein Buch gemacht, "Mallorca unterm Hakenkreuz", heisst es. Vieles, was er darin erzählt, ist traurig und tragisch. Es steht im Kontrast zur Banalität, mit der die reiche Schönheit, Rätselhaftigkeit und historische Schicksalhaftigkeit der Ferieninsel Mallorca üblicherweise beschrieben wird.

Viele historische Stränge laufen am Friedhof von Palma zusammen. "Im Tod sind sie hier alle vereint", sagt Sepasgosarian. Er läuft vorbei an den Gräbern deutscher Nazis, britischer Philanthropen, verfolgter Juden, mallorquinischer Magnaten und italienischer Kampfpiloten aus dem Spanischen Bürgerkrieg, 1936 bis 1939. Warum waren die Heinemanns hierhergekommen? "Mallorca war schön, Mallorca war billig, und es war weit weg von Deutschland", hat ihre Tochter Lore erzählt. Das mit der Entfernung sollte sich als Trugschluss erweisen. Deutschland kam hinterher.

Nach Hitlers Machtergreifung begannen NS-Auslandsorganisationen auf der ganzen Welt, Institutionen, Vereine, Clubs und Schulen deutscher Auswanderer gleichzuschalten. Das geschah im grossen Stil in Argentinien, Chile und Brasilien, wo Hunderttausende Deutsche lebten. Aber auch im kleinen Mallorca gründete sich eine NSDAP-Ortsgruppe, schon bald wurden dann die verfolgt, die hier Schutz gesucht hatten. Der deutsche Konsul Hans Dede gelobte 1937, er werde "gerne Kenntnis geben von Leuten, die nach Deutschland zurückkehren und die ins KZ gehören".

Der Flugzeugträger der Faschisten

Nazianführer auf Mallorca wurde ein Konditor namens Walter Rup, ein eher beschränkter Zeitgenosse, wie Sepasgosarians Forschungen ergaben, und damit war Rup in der Partei gerade richtig. Anfangs mussten die Nazis noch zurückhaltend agieren. 1933 regierte in Madrid eine demokratische Regierung, die versuchte, das rückständige Land zu modernisieren durch eine Agrarreform, eine liberale Schulpolitik und das Frauenwahlrecht. Doch 1936 putschte das Militär unter dem Faschisten Francisco Franco, es folgte ein dreijähriger Bürgerkrieg, in dem fast eine Million Menschen umkamen, und den Franco gewann - weil Hitler und Mussolini ihm halfen. Italienische Kampfflieger und die deutsche Legion Condor starteten von Mallorca aus, um Barcelona zu bombardieren. "Die Insel war der Flugzeugträger", sagt Sepasgosarian, eine sichere Festung der Faschisten.

Der Krieg war auf Mallorca nach wenigen Tagen vorbei, das aufständische Militär gewann sofort die Oberhand. Gegner wurden festgenommen und hingerichtet, so auch der Bürgermeister Palmas, ein Liberaler. Nach einem Schlaganfall konnte er nicht mehr gehen, man schleppte den Todkranken also vor die Friedhofsmauer, setzte ihn auf einen Stuhl, erschoss ihn und verscharrte die Leiche. Mehr als 2200 Menschen wurden auf der Insel so liquidiert. Es war eine "brutale Repression", sagt Antoni Tugores. Der weisshaarige frühere Bankangestellte ist einer der Hobbyhistoriker, mit denen Alexander Sepasgosarian zusammenarbeitet. Es waren Leute wie Tugores, die durch ihre Forschung dafür sorgten, dass in den letzten Jahren Massengräber auf der Insel geöffnet wurden, wenn auch spät. In Spanien begann erst die Generation der Kriegsenkel, nach ihren verscharrten Grossvätern zu suchen, so um das Jahr 2000 herum, in Mallorca noch einmal ein Jahrzehnt später.

"In Mallorca standen höchstens 40 Prozent der Menschen zur Republik", sagt Tugores. Das hatte mit der Sozialstruktur zu tun. Die Insel wurde stets von reichen Clans beherrscht, die über arme Bauern, Handwerker, Landarbeiter geboten, eine Art Feudalsystem. Nach dem Krieg durfte 40 Jahre lang niemand über die Schrecken reden. Die Familien der Opfer durften nicht mal trauern. Sepasgosarian zeigt neben der Friedhofsmauer von Palma auf eine Metallskulptur, die das symbolisiert: Sie stellt die Kleidung der Erschossenen dar, die die Mörder auf einen Haufen an der Strassenecke warfen; die Hinterbliebenen konnten dann Mützen, Jacken und Schuhe durchwühlen und sehen, ob Kleider ihrer Väter oder Söhne dabei waren.

"Das Schweigen war Francos grösster Sieg", sagt Tugores in einer Bar, wo nebenan die Männer Karten spielen und Arbeiter an der Bar ein Bier trinken. Mallorca ist abseits des touristischen Klischees eine schweigsame Insel. In der rückständigen Sozialstruktur vermutet Tugores den Grund dafür, warum es auf Mallorca, wo man eine Varietät des Katalanischen spricht, nie eine starke separatistische Bewegung gab. "Der Separatismus auf dem Festland wird getragen von einer kritischen bürgerlichen Mittelschicht. Die fehlte hier." Man spürt das Erbe des Schweigens auf dem Friedhof von Porreres. Das Dorf im Bauernland östlich von Palma hatten Francos Schergen zum Hauptort der Erschiessungen auserkoren, vielleicht weil es abgelegen ist. Man stellte die Leute an die Wand der Kapelle und erschoss sie, "aus nächster Nähe, das haben Gerichtsmediziner an den Schädeln festgestellt", sagt Sepasgosarian. Man sieht die Stelle, an der sie verscharrt wurden. Es ist eine gekieste Fläche, vor kurzem erst wurde das Massengrab geöffnet.

Der Friedhofsverwalter ist mürrisch: "Einen Haufen Dreck haben die gemacht." Wie viele Tote gefunden wurden? "Weiss ich nicht, fragen Sie die Gemeindeverwaltung. Ist alles topsecret!" Doch viele spanische Medien haben über die Exhumierungen berichtet. An die 70 Tote waren es, die identifizierten Überreste wurden den Hinterbliebenen übergeben. Sepasgosarian zitiert in seinem Buch eine Angehörige: "Für meine Familie schliesst sich heute eine Tür des Schmerzes."

Italienische Kampfflugzeuge gekauft

In Sa Coma, im Osten der Insel, wo heute die Strohschirme am türkisblauen Wasser stehen, wagte das demokratische Spanien im August 1936 einen allerletzten Invasionsversuch, um Mallorca von den Faschisten zu befreien. Der Marineflieger Alberto Bayo, später Militärberater Fidel Castros, kommandierte damals einen zusammengewürfelten Haufen aus republiktreuen Soldaten, Milizionären, Idealisten, Anarchisten, Brigadisten. Nach zwei Wochen wurden sie von den Faschisten zurückgeschlagen, wozu vor allem Kampfflugzeuge beitrugen, die der Inselmagnat und Bankier Juan March in Mussolinis Italien gekauft hatte - mitsamt Piloten.

Juan March, Gründer der heute noch durch zahllose Geldautomaten auf der Insel verewigten und hochaktiven Banca March, war der Prototyp des gewissenlosen, moralisch total verkommenen Kriegsgewinnlers. Schon im Ersten Weltkrieg, in dem Spanien neutral war, hatte der mallorquinische Patriarch ein Vermögen verdient, indem er zuverlässig beide Kriegsparteien belieferte. Bis heute bewundern Touristen seine Villa, umgeben von einem riesigen Park, und die moderne Kunst der Familienstiftung in Palma. "Manche sagen, er sei damals der reichste Mann der Welt gewesen", sagt Alexander Sepasgosarian. Leute wie Juan March waren die Drahtzieher und Financiers in Francos Krieg. Auch er liegt auf dem Friedhof in Palma begraben. Es ist das Grabmal eines Pharao, riesig, im byzantinischen Stil. Die, die er bekämpfen liess und an denen er reich wurde, liegen verscharrt in Massengräbern oder im Sand an der Küste - unter den Handtüchern der Touristen.

Viele Deutsche verliessen die Insel wegen des Bürgerkriegs, und Lore Krüger erwischte ein Schiff nach Marseille, gelangte 1941 schliesslich ins Exil in die USA. Ihre Eltern blieben in Palma. Franco-Spanien war zwar auch im Zweiten Weltkrieg neutral, stand jedoch Hitler-Deutschland nahe. Madrid liess Listen von Juden anfertigen. Krügers Eltern erhielten den Befehl, die Insel zu verlassen. Es ist ungewiss, ob die Behörden Ernst gemacht hätten, denn Franco war ein nicht immer besonders konsequenter Diktator. Nach Kriegsende brüstete er sich sogar damit, er habe Zehntausende Juden gerettet. Aber wer konnte 1940 wissen, was geschehen würde? So wählten Lore Krügers Eltern den Tod.

Den Kriegsverlierern gegenüber war Franco grosszügiger. So floh der Wehrmachtssoldat Rudolf Henning, später genannt der dicke Rudi, 1945 aus einem französischen Kriegsgefangenenlager nach Spanien, wo man ihn recht freundlich aufnahm. Er ging nach Mallorca und eröffnete die Bierkneipe Tirol, noch heute ein beliebter Sauftouristentreff in Palmas Altstadt. Auch der frühere SS-Mann Otto Skorzeny und andere alte Kameraden fühlten sich in den 60er-Jahren wohl auf der Insel. Die letzte Naziaufwallung auf der Insel mutet im Vergleich zu all dem skurril an. Letzten Sommer brüllte eine Handvoll betrunkener Skinheads in einer Bierhalle an der Playa de Palma "Ausländer raus!" Die Polizei auf der Insel, die unter der Ägide der 3-Parteien-Linksregierung auf den Balearen gegenüber Exzessen härter durchgreift als früher, tat, wie ihr geheissen: Sie schmiss die deutschen Nazis aus der Bierhalle und führte sie ab.

Alexander Sepasgosarian. Mallorca unterm Hakenkreuz 1933-1945. Matrix-Media-Verlag, Göttingen.

(Tages-Anzeiger)

Erstellt: 31.05.2018, 16:10 Uhr

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